Kaffeehausfußball

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Café Holub, Klubcafé des SK Rapid (15., Hütteldorfer Straße 58 bzw. Kannegasse 1),
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Bildunterschrift Café Holub, Klubcafé des SK Rapid (15., Hütteldorfer Straße 58 bzw. Kannegasse 1),

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Kaffeehausfußball ist eine metaphorische Bezeichnung für Aspekte der Wiener Fußballkultur der Zwischenkriegszeit, die mit dem realen und symbolischen Ort des Wiener Kaffeehauses im Zusammenhang stehen und für die Herausbildung der „Wiener Schule“ des Donaufußballs Bedeutung hatten. Abwertend wurde der Begriff von der ausländischen Sportpresse für die Benennung eines als langsam, schlampig und ballverliebt etikettierten österreichischen Spielstils verwendet.

Der Fußball kommt ins Kaffeehaus

Mit seiner Entwicklung zum populären, zunehmend medialisierten Massenphänomen melangierte sich der Fußball in Wien - ansatzweise schon vor dem Ersten Weltkrieg, strukturell und nachhaltig dann in der Zwischenkriegszeit - in zweierlei Hinsicht mit der lokalen Kaffeehauskultur.

Einerseits kam der Fußball ins Kaffeehaus. Dabei spielte das dort seit langem übliche (illegale) Billard- oder Kartenspielen gegen Geld keine unerhebliche Rolle, weil diese Praxis das Aufkommen der ebenfalls illegalen Sportwetten genau in diesem Milieu erleichterte. Spätestens seit der massiven Ausweitung des Rennbetriebs im Pferdesport der 1880er-Jahre konnte man vor allem in einigen Kaffeehäusern entlang der Ringstraße auf Pferderennen wetten, weshalb diese auch „Sportcafés“ genannt wurden. Daraus entwickelte sich spätestens Anfang der 1920er-Jahre das „Fußballcafé“, womit Kaffeehäuser bezeichnet wurden, in denen man auf Ergebnisse von Fußballspielen tippen konnte. Sportcafé und Fußballcafé waren also Vorläufer der heutigen Wettcafés. Die insbesondere von der sozialdemokratischen Sportpresse angeprangerten Fußballwetten sollten letztlich erst im Jahr 1949 mit der Einführung des Sportotos eine legale und bis heute populäre Alternative finden. Nicht von ungefähr wurden die ersten Toto-Annahmestellen unter anderem in Kaffeehäusern eingerichtet.

Klubcafés

Auch bildete sich der Typus des „Klubcafés“ heraus. Im Fall der Klubs aus den vorstädtischen, proletarischen und kleinbürgerlichen Milieus wurzelt diese Institution im Umstand, dass Gastronomen - auch Kaffeesieder - frühe Förderer und Funktionäre des Fußballs waren und ihre Räumlichkeiten im Vereinsalltag zur Verfügung stellten. Prototypische Beispiele für diesen Typus sind das „Café Holub“ (15, Hütteldorfer Straße 58 bzw. Kannegasse 1), gegründet und betrieben von Johann Holub (Rapid-Präsident 1928-1939) bzw. das „Café Erber“, später „Café Neubau“ (7., Westbahnstraße 60/Urban-Loritz-Platz 6), von 1921 bis 1949 bzw. 1950 bis 1978 jeweils Klubkaffeehäuser und -sekretariate des SK Rapid. Die Klubcafés der „Cityklubs“ hingegen waren, dieser Bezeichnung entsprechend, im innerstädtischen Bereich angesiedelt. Prägnante Beispiele für diesen Typus sind das Ring-Café (1., Stubenring 16), weiters das Dom-Café (1., Singerstraße 10) und das Café Herrenhof, Klubcafés der Austria in der Zwischenkriegszeit und in den 1950ern.[1] Gerade diese Stadtcafés waren aber auch Stammlokale von Literaten, Feuilletonisten, Journalisten, Künstlern und Börsianern, womit der Fußball auch den Alltag dieser Kreise erreichte.

Wenn auch die größeren Vereinsfeierlichkeiten (Generalversammlungen, Titel- und Weihnachtsfeiern, Krampuskränzchen, Redouten und Bälle etc.) zumeist in größeren Etablissements stattfanden (in den Extrasälen der größeren Klubgaststätten, manchmal sogar in eigens angemieteten Veranstaltungsräumen (Katharinenhalle (Rapid), Kursalon (Austria), so spielten die seit den frühen 1920er-Jahren institutionalisierten Klubcafés eine im Vereinsalltag zunehmend zentrale Rolle: Spieler, Funktionäre, Anhänger und Adabeis (hie und da sogar deren weibliche Angehörige) trafen sich dort täglich, um für das Vereinsleben relevante Neuigkeiten auszutauschen, zu diskutieren und Entscheidungen zu treffen. In den Klubcafés lagen, wie auch in den Fußballcafés, eigens abonnierte Sportzeitungen auf, deren Anzahl im Zuge der Medialisierung des Fußballbetriebs dieser Jahre bedeutend zunahm. Ab 1927, als Radio Wien mit Liveübertagungen von Spielen begann, versammelte man sich dort außerdem zum „Public Listening“. Viele Klubcafés waren auch Kartenvorverkaufsstellen, nicht wenige boten sogar regelmäßige „Sprechstunden“ an. Für die Kartenspieler unter den Vereinsmitgliedern veranstaltete man Preisschnapsen, wie überhaupt vor allem die Wiener Fußballer eine traditionelle Nähe zum Billard- und insbesondere Kartenspiel pflegten und diese auch in den Klubcafés betrieben (Ernst Happel zum Beispiel besuchte noch als längst im Ausland wirkender Weltklassetrainer regelmäßig seine Kartenspielerrunde im Ottakringer Café Ritter). Im Klubcafé Rapids (Café Neubau) sollte sich auch die erste Anhängervereinigung Österreichs nach 1945 konstituieren, der „Club der Freunde des S.C. Rapid“ (siehe Wiener Fankultur). Dass der Fußball ins Kaffeehaus kam, zeigt auch der Umstand, dass populäre Spieler unter Verwendung ihres Bekanntheitsgrades selber Kaffeehäuser eröffneten oder übernahmen. Der Internationale Johann Horvath, mit 29 Toren zwischen 1924-1934 bis heute immerhin der drittbeste Torschütze in der ewigen Rangliste des österreichischen Nationalteams, betrieb lange Jahre das nach ihm „Café Horvath“ benannte Klubcafé seines Stammklubs Erster Simmeringer Sportklub. Die Rapidler Josef Brandstetter und Heinrich Krczal (Körner) waren Inhaber des „Sportcafés Viktoria“ (12., Schönbrunner Straße 209). Das bekannteste Beispiel eines Fußballspielers als Kaffeehausbesitzer ist aber Matthias Sindelar, welcher im Zuge der „Arisierung“ jüdischer Betriebe nach dem Anschluss Österreichs an den NS-Staat im Frühjahr 1938 das Café Annahof (10., Laxenburger Straße 16/Dampfgasse 1) seines Freundes Leopold Drill übernahm.

Das Kaffeehaus kommt zum Fußball

Im Zuge seiner Popularisierung kam andererseits auch das Kaffeehaus zum Fußball, oder besser: dessen typische Insassen. Die leitenden Funktionäre vor allem der Verbände (ÖFB, WFV und „Cityklubs“ zählten aufgrund ihrer sozialen Verankerung in den innerstädtischen bürgerlichen (teils jüdischen) Milieus ohnehin zu den Stammgästen der Stadtcafés, wie etwa Hugo Meisl, die herausragende Funktionärsgestalt dieser Zeit. Auch Meisls berufliche Wege als in den inneren Bezirken arbeitender Bankbeamter bzw. Sportjournalist und eben Sportfunktionär führten ihn regelmäßig ins Kaffeehaus. Darüber hinaus galt es nun aber auch unter Kulturschaffenden, Unternehmern und Politikern - jenem Soziotop also, welches insbesondere die Stadtcafés bevölkerte – als modern, sich für den Fußball zu begeistern, selbst zu spielen oder sich als Anhänger eines Klubs zu äußern bzw. diese Begeisterung und Anhängerschaft medial zu inszenieren. Der beliebte Tenor der Wiener Staatsoper Alfred Piccaver etwa ließ sich 1934 im Rahmen eines Hobbymatches zwischen seinem Ensemble und jenem des Burgtheaters auf der Pfarrwiese mit Rapid-Star Josef Uridil ablichten. Der Komponist Alban Berg war bekennender Rapidler, und focht dieses Bekenntnis auch in einem emotionalen Briefverkehr mit dem Schriftsteller Soma Morgenstein aus, der für die Admira drückte. Andere namhafte Autoren, darunter Elias Canetti, Ödön von Horváth und Friedrich Torberg schrieben Prosatexte, Gedichte, ja Romane mit Bezug zum Fußball, oder reflektierten und theoretisierten den Wiener Fußball in ihren Feuilletons, wie der prototypische „Kaffeehausliterat“ Alfred Polgar, und beeinflussten dadurch nicht unwesentlich auch seine konkrete Praxis.[2] Der Autor, Theaterkritiker, Verleger und Sexualforscher Leo Schidrowitz schließlich begeisterte sich so sehr für den Fußballsport, dass er zu einem bedeutenden Funktionär (zwischen 1923-1938 und 1950-1953 bei Rapid und dem WFV, „Propagandareferent“ des ÖFB (1950-1956) und Fußballhistoriker wurde (siehe Literaturangaben). Das Kaffeehaus bildete also, vor allem in der Gestalt des innerstädtischen Sport-, Fußball- und Klubcafés, einen die Herausbildung der „Wiener Schule“ des Donaufußballs konstituierenden Raum, in dem sich die vorstädtisch-proletarischen (Spieler, Anhänger) und die innerstädtisch-bürgerlichen (Funktionäre, und vor allem Geldgeber, Literaten, Journalisten, Feuilletonisten) Lebenswelten zu einer Wiener Melange der Kaffeehaus- und Fußballkultur vermengten.

Prototyp „Ring-Café“

Die laut mehreren Überlieferungen reinste Verortung des Kaffeehausfußballs war das Ring-Café, ursprünglich auch Klubcafé der 1894 gegründeten Cricketer. Das Lokal wurde als „Plenum der Fußballrepublik“ bezeichnet, da die hier täglich anzutreffenden (mitunter auch internationalen) Verbandsfunktionäre, Vereinsvertreter und Sportjournalisten (oft selbst Altfußballer) alle Interessengruppen des Wiener Profifußballs repräsentierten. Im Ring-Café wurde in der typischen Atmosphäre des Kaffeehauses, oft im Rahmen einer Kartenrunde, und unter Vorsitz von Hugo Meisl über das Wiener und mitteleuropäische Fußballgeschehen diskutiert, geschrieben und entschieden. Nach Friedrich Torberg soll hier in Gesprächen Meisls mit Journalisten auch das Wunderteam „geboren“ worden sein. Angeblich hätten diese im Vorfeld eines Länderspiels gegen Schottland im Mai 1931 einen neu formierten Angriff mit nicht nur einem, sondern zwei Mittelstürmern gefordert, nämlich Matthias Sindelar von der Austria und Fritz Gschweidl (siehe 21., Gschweidlgasse) von der Vienna. Letztlich erfolgreich, obwohl Meisl dieser Aufstellungsvariante bis dahin immer ablehnend gegenüber gestanden wäre. Schlussendlich hätte er aber nachgegeben und mit dem Ausruf "Hier habt's euer Schmiranskiteam!" einen Zettel mit der späteren Stammelf dieser legendärsten aller österreichischen Nationalmannschaften auf den Kaffeehaustisch geworfen. Tatsächlich schlug das Wunderteam am 16. Mai 1931 vor 40.000 Zuschauern auf der Hohen Warte die oft als „Lehrmeister“ des für die Wiener Spielart des Donaufußballs charakteristischen Kombinations- und Kurzpassspiels titulierten Schotten mit 5:0. Die vom Wunderteam praktizierte und „Scheiberlspiel“ genannte Weiterentwicklung des schottischen Stils, wurde zusätzlich in Szene gesetzt mit Wiener Schmäh, einer genuinen Einstellungs- und Verhaltensmischung aus Witz, List, Leichtigkeit, Einfallsreichtum und Schönheitssinn, welche in ihrer verbalen Form auch in Kaffeehäusern wie dem Ring-Café gepflegt wurde.

Literatur

  • David Forster: Café Sindelar revisited. In: David Forster, Jakob Rosenberg, Georg Spitaler, Hg.: Fußball unterm Hakenkreuz in der "Ostmark". Göttingen: Werkstatt 2014, S. 314-330
  • Roman Horak, Matthias Marschik: Vom Erlebnis zur Wahrnehmung. Der Wiener Fußball und seine Zuschauer 1945 -1990, Wien: Turia & Kant 1995
  • Domenico Jacono: Religion Rapid. Die Geschichte der Anhänger des SK Rapid Wien. Göttingen: Werkstatt (in Arbeit)
  • Herwig Kraus, Wilhelm Sinkovicz: Alban Berg. Zeitumstände – Lebenslinien. Salzburg: Residenz Verlag 2008
  • Wolfgang Maderthaner, Roman Horak: Das Kaffeehaus als Ort und Metapher. In: Dies.: Mehr als nur ein Spiel. Fußball und populare Kulturen im Wien der Moderne. Wien: Löcker 1997, S. 113-1939
  • Wolfgang Maderthaner u.a. [Hg.]: Die Eleganz des runden Leders. Wiener Fußball 1920-1965. Wien: Die Werkstatt 2008
  • Matthias Marschik, Georg Spitaler: Leo Schidrowitz. Autor und Verleger, Sexualforscher und Sportfunktionär. Berlin: Hentrich & Hentrich 2015
  • Leo Schidrowitz [Hg.]: Geschichte des Fußballsports in Österreich. Wien / Wels: Traunau 1951

Einzelnachweise

  1. Sportfunk, 15. Mai 1955, S. 2
  2. Canetti ließ sich unter anderem von der Atmosphäre auf der Pfarrwiese zu seinem philosophischen Hauptwerk „Masse und Macht“ inspirieren; Horváth verfasste ein „Fußballmärchen“; Torberg den Roman „Die Mannschaft“ und schrieb mit den Gedicht „Auf den Tod eines Fußballspielers“ einen Nachruf auf Sindelar.