Adolf-Loos-Stadtführung (22. November 1913)
48° 12' 11.05" N, 16° 21' 43.94" E, 48° 12' 10.43" N, 16° 22' 1.71" E, 48° 12' 1.00" N, 16° 22' 0.94" E, 48° 12' 2.11" N, 16° 21' 59.48" E, 48° 12' 3.85" N, 16° 21' 50.98" E, 48° 12' 3.05" N, 16° 21' 56.62" E, 48° 12' 8.85" N, 16° 21' 48.42" E, 48° 12' 7.28" N, 16° 21' 51.49" E zur Karte im Wien Kulturgut
Route: Babenbergerstraße → Schillerplatz → Opernring → Operngasse → Friedrichstraße → Getreidemarkt → Makartgasse → Eschenbachgasse → NibelungengasseEs handelt sich um die zweite von zehn Stadtführungen, die Adolf Loos im Rahmen seiner Bauschule zwischen November 1913 und März 1914 veranstaltete.
Transkription der Mitschrift
"Das Haus Opernring 3 von Hansen gebaut ist der Typus des guten Wiener Ringstraßenhauses. Es wurde 1863 gebaut. Da die Polizei in Wien nur 4 Etagen und 24 m erlaubt, so hat Hansen, um mehr Wohnräume zu schaffen, die Aufbauten an den Seiten angebracht. Die anderen Späteren wollten ja auch ausnützen so sehr sie konnten, aber wie haben sie das gemacht, mit Türmen und Kuppeln.- Der Blick links von der Oper hinunter über die Ringstraße ist der schönste: Das ist die Millionenstadt, das ist Wien. Aber was sie jetzt bauen, ist das 5-stöckige Mährisch Ostrau.- Das Haus auf dem Michaelerplatz kommt nicht dazu: denn es hängt vom Platze ab, wo es hingehört, wie ein Haus ausschauen muss.- Das Haus Ecke Operngasse zeigt ein anmutiges „modernes“ Haus im Gegensatz zu Nr. 3. „Romantisch“ war damals modern und so zeigt es eine Verquickung von gothischen, mit Renaissance und antiken Ornamenten, die eben damals „modern“ waren.
Die Secession von Olbrich 1897 gebaut. Er ist kein Architekt, trotzdem Otto Wagner ihn für seinen besten Schüler und Propheten hält. Damals baute Otto Wagner die Stadtbahn und „Studio“ war voll mit diesen Zeichnungen. An der Haltestelle Kettenbrückengasse sind Pylonen mit Lorbeerbäumen – Ornamente. Dort hatten die Pylonen eine Berechtigung, weil sie ein Geländer halten. Dass Olbrich nur auf grafischem Weg, schwarz weiß nimmt es sich ganz gut aus, auf die Idee des Lorbeerbaumes kommen konnte, ist klar. Dann schwebte ihm noch die Peterskuppel vor, der Lorbeerbaum ist auch rund, so musste ihn ein Schlosser schmieden, und ein Dach ist es auch nicht, denn es regnet hinein. Der Aufbau herum ist ganz einfach eine aufgenagelte Kiste. Dass er nur Grafiker ist, beweisen die Eulen an den Seitenwänden. Die waren damals im „Studio“ als Zeichnung eines englischen verdrehten Frauenzimmers erschienen; da hat er sie dahin gepappt. Es erkennt sie dort keiner. Aber Loos ist der Detektiv, der kommt schon hinter alles. Die Flaggenstangen mit Kränzen sind nicht etwa zum Aufhängen von Kränzen bestimmt, sondern sind Wasserrinnen. Die tanzenden Bachantinnen von Kolo Moser hat Oerley zum Glück weggeputzt. Von Oerley sind die Blumenbehälter beim Eingang. Der Marc Aurel [sic!] von Arthur Strasser galt im Jahre 1900 bei der Pariser Weltausstellung als die beste Wiener Bildhauerarbeit und es war eine große Entrüstung, als Klimt und nicht Strasser eine große Ehrenauszeichnung bekam. Heute ist der Marc Aurel [sic!] schon verblasst, aber es ist eine gute dekorative Arbeit. Bewundern freilich konnten die französischen Bildhauer nicht viel an ihm.
(Schubert, Architekt), das ist ein Handelsmann, heute ist das Wort „Architekt“ eine Beleidigung und so in Misskredit gekommen, wie das Wort „Commis“. Vor 100 Jahren nannte man einen Gesandtschaftsattaché einen Commis, und heute sagt man nicht mehr Commis, aber die Menschen sind es!! Getreidemarkt 1-3 zeigt was wir hatten und was wir statt dessen jetzt haben.
Die Akademie von Hansen in den 70er Jahren gebaut, war sein erstes monumentales Gebäude. Danach baute er das Parlament. Die Rückansicht des Gebäudes ist die großartigere, weil es auch hier viel höher ist. Der Sockel aus Granit ist das großartigste, was in der neueren Zeit hier gebaut wurde. Wunderbar fein auch, wie die Rundbogen der Hinterfront mit den Fenstern der Seitenfront in Einklang gebracht und unter ein Gesimse gebracht wurden. Monumental, wie er das ganze Gebäude auf die vier Eckpylonen stützt, ohne einen Risalit in die Mitte zu bringen. Das würde kein „Moderner“ zu Wege bringen. An dem Seiteneingang in der Makartgasse kann Loos niemals vorübergehen, ohne Bewunderung zu empfinden. Es ist das Vollkommenste, was wir haben. Richtig ist auch der Standpunkt des Gebäudes nach der Ringstraße zu: wenn man von dort hinüber schaut, hat man das Empfinden des Großartigen, Überraschenden, Monumentalen, dabei muss man bedenken, dass die Ringstraße höher liegt. Wäre es umgekehrt, wäre es geradezu überwältigend. Solche Blicke machen eine Stadt reich. Aber das Burgtheater, das sich auf die Ringstraße hinausdrängt, das unrichtig placierte Goethedenkmal gewähren keine Überraschungen. Auch das Rathaus [Anm.: Es folgt ein nicht leserlicher Hinweis, höchstwahrscheinlich zur Situierung des Rathauses].
Schiller von Schilling, einem Dresdner Bildhauer. Die Wiener haben das damals nicht zu Stande gebracht. Am Schillerplatz, wo jetzt das Ministerium des Innern ist, war eigentlich ein Hotel. Im Jahre der Weltausstellung wurden nichts als Hotels gebaut.
Der Ingenieur- und Architektenverein hatte zur Aufgabe, große Saallokalitäten zu bauen, was auch sehr glücklich gelöst wurde. Erbaut von Thienemann 1876, unter starker Einwirkung von Hansens Heinrichhof. Selbst die liegenden Figuren über den Fenstern sind herübergenommen. Hansen hat Terracotta-Figuren. Nachahmungen der Medici-Grabgruppe des Michelangelo. Hier waren es selbständige Bildhauerarbeiten.
Das Haus 13 in der Nibelungengasse, wo der Hausflur nach Angaben von Loos geändert wurde, beweist von neuem, dass Hoffmann (Grabencafé) nicht selbständig denken kann, kein Architekt ist, da er nicht einmal im Stande ist, einen Stein zu bestimmen. Vielleicht ist der für Tische, Stühle und dergleichen begabt, das will Loos dahingestellt lassen.
Die Seitenansicht des Kunsthistorischen Museums von Semper so genau ausgedacht, die Übereinstimmung der Überschriften mit dem Medaillonköpfen und Figuren, von den Bildhauern, denen er es nach ihrer Begabung zuwies, sowenig seinen Intentionen gemäß durchgeführt, dass er nach 2-3 jährigem Herumnörgeln das Ganze sein ließ. Die Zwickelfiguren und Metopen von Weyr. Hier auch ein Geniestreich Sempers. Die Eckpilaster der römisch-dorischen Ordnung angehörend, müssen 8 u.d.d.h. der unteren Breite hoch sein, so ist es auch an der oberen Ecke, aber an der Ringstraßenecke, wo das Terrain um so viel tiefer liegt, sind sie um drei Breiten höher und wirken trotzdem sie so sehr erhöht sind ganz natürlich, da sie wiederum nur das 8-fache der Höhe sind. Dies war aber nur in der Rustica-Ausführung möglich."
Kommentar
Der zweite Führungstermin begann erneut an der Ringstraße bei der Oper. Die Route führte durch die Operngasse über den Getreidemarkt zum Schillerplatz. Von dort ging Adolf Loos mit seiner Gruppe über die Eschenbach- und Nibelungengasse zur Babenbergerstraße. Im Gegensatz zur ersten Führung leitete Loos von der Innenstadt weg und besichtigte ausgewählte Ziele des Stadterweiterungsgebiets, das nach 1857 sukzessive verbaut wurde. Auf dem Programm standen Monumentalbauten wie der Heinrichhof, die Secession oder die Akademie der bildenden Künste.
Der erste Halt wurde beim vis-á-vis der Oper gelegenen Heinrichhof gemacht: Die Besprechung des Gebäudes lässt die grundsätzliche Wertschätzung, die Loos dem streng historistischen Architekten Theophil Hansen auch bei anderen Gelegenheiten entgegenbrachte, erkennbar werden, wenn er das Bauwerk zum "Typus des guten Ringstraßenhauses" rechnete. Für Loos fügte sich der Heinrichhof gut in die Erscheinung dieses Ringstraßenabschnittes ein: "Der Blick links von der Oper hinunter über die Ringstraße ist der schönste, das ist die Millionenstadt, das ist Wien." Loos schätzte den Eindruck, welchen die gründerzeitlichen Bauten aus den frühen 1860er Jahren boten: das Dekor war schlicht, es gab keine Aufbauten oder vorspringende Risalite, die Fensterachsen waren streng additiv. Dahinter stand die zweite Wiener Bauordnung, die 1859 für die Anlage der Ringstraße entwickelt worden war und die Aufbauten generell verbot. Dadurch entstand ein sehr ernster und ruhiger Straßencharakter. Die Ausnahme, die der Bauherr des Heinrichhofes Heinrich Drasche erwirken konnte, weil sich dem wuchtigen Opernhaus gegenüber ein repräsentativeres Bauwerk besser ausnahm als eine Reihe von einzelnen Palais, kann Loos verstehen. Er sieht sogar den beabsichtigten ökonomischen Nutzen dahinter, da Hansens Aufbauten noch für Wohnzwecke nutzbar waren, im Gegensatz zu jenen, die spätere Architekten geplant hatten und lediglich dekorativen Wert besaßen.
Das nächste größere Ziel war die Secession, die von außen besichtigt wurde. Loos, der in seiner gesamten Architekturlehre sowie in seinem schriftstellerischen Schaffen immer wieder Kritik an der secessionistischen Strömung übte, mit der Josef Hoffmanns Arbeiten engstens verbunden sind, nutzt den Besuch dieses Ausstellungsgebäudes für einen Rundumschlag. Es gibt Belege dafür, dass Loos zur Zeit der Gründung der Secession dieser durchaus nicht feindlich gesonnen war. Er hatte sogar in Ver Sacrum publiziert. Die Ablehnung von Loos' Ansinnen durch Josef Hoffmann im November 1898, ihm den Auftrag für die Einrichtung des sogenannten Ver Sacrum-Zimmers für die erste Ausstellung in der Secession zu überlassen, dürfte ein wichtiger persönlicher Impuls für den zeitlebens geführten Kampf gegen diese Richtung gewesen sein. Dem Architekten des Bauwerkes, Josef Maria Olbrich, sprach Loos bei der Führung jede architektonische Fähigkeit ab und bezeichnete ihn als bloßen Graphiker. Einzelne Elemente der Secession seien ferner nicht Schöpfungen Olbrichs, sondern Kopien aus Architektur- und Kunstgewerbezeitschriften. Von seinem Lehrer Otto Wagner habe er dekorative Elemente der Stadtbahn kopiert, ohne diese jedoch verstanden zu haben. Von dort her wurden beispielsweise die Fahnenmasten mit den Lorbeerkränzen übernommen, aus welchen Olbrich jedoch getarnte Regenrinnen gemacht hatte. Loos stilisierte sich vor seinen Hörern gleichsam zum Detektiv, der alles genau untersucht und aufdeckt. Wenn Loos Olbrich jedoch mangelnder Originalität bezichtigte und ihm unterstellte, die drei Eulen aus der weitverbreiteten Architektur- und Kunstgewerbezeitschrift "The Studio" übernommen zu haben, irrte er. Die Eulen sind in keiner Nummer der Zeitschrift enthalten, sie stammen nämlich von Kolo Moser und dürften auch dessen Entwurf sein. Die Eulen sind ebenso wie die an der Fassade befindlichen Gorgonenhäupter Symbol der Pallas Athene, welche als Weisheitsgöttin Architektur, Malerei und Bildhauerei schützt und erfüllen neben dem eher zweitrangigen dekorativen Zweck vor allem einen symbolischen. Einen bemerkenswerten Hinweis überlieferte der anonyme Verfasser der Mitschrift in Bezug auf das von Kolo Moser an der seitlichen und rückwärtigen Fassade gestaltete Relief, "Reigen der Kranzträgerinnen". Diese Arbeit, von Loos als "Bachantinnen" tituliert, konnte Loos seinem Publikum nicht mehr zeigen, da sie entfernt – Loos sagte "weggeputzt" – worden war, nachdem Moser 1905 mit der Klimtgruppe die Secession verlassen hatte. Loos datierte in der Führung diese Entfernung fälschlich in die Zeit der Direktion von Robert Oerley. 2018 wurde anlässlich des 100. Todestages von Kolo Moser ein Teil dieses Kunstwerkes vor Ort rekonstruiert. Die weltberühmte Lorbeerkuppel fand Loos' besonderes Missfallen, da sie den praktischen Zweck eines Daches, den eine Kuppel auch haben solle, nicht erfüllt. Sie ist für Loos das Sinnbild für ornamentale Materialverschwendung und praktische Nutzlosigkeit, da sie das Gebäude nicht vor der Witterung schützt und unter diesem Laubdach ein weiteres Dach benötigt wird.
Daraufhin führte Loos einige Schritte weiter nach Westen, um die beiden Häuser Getreidemarkt Nr. 1 und Nr. 3 einander gegenüber zu stellen. Die beiden Gebäude drücken mustergültig aus, warum Loos die traditionelle Architektur den damals noch jungen historistischen Bauwerken vorzog: Das ältere Gebäude (Haus Nr. 3) ist ein viergeschoßiges Eckhaus zur Papagenogasse in unmittelbarer Nähe zum Theater an der Wien. Es weist eine klare, sehr strenge, die Horizontale betonende Gliederung auf. Der Kern des Hauses stammt aus dem späten 18. Jahrhundert, er weist biedermeierliche Umgestaltungen (Aufstockung und Fassadierung) auf. Es handelt sich dabei um das Geburtshaus des Dichters Ferdinand von Saar.
In massivem Gegensatz zu dieser schlichten Strenge steht das Haus Getreidemarkt Nr. 1, das im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts nach Plänen des Architekten Carl Stephann errichtet wurde. Für Loos ist dieses Gebäude nahezu symptomatisch. Ermöglicht durch eine geänderte Bauordnung überragt es das alte Nachbarhaus massiv, nimmt die Umgebung und deren gewachsenen Maßstäbe nicht wahr. Dieses Gebäude stammt aus einer Zeit, als die Wienzeile in städtebaulicher Hinsicht aufgewertet werden sollte (Boulevard West). Mit seiner Kritik legte Loos auch den Finger auf aus seiner Sicht städteplanerische Missstände, wonach reihum Altbauten dem spätgründerzeitlichen Bauboom geopfert würden und Wien nach und nach erhebliche Stadtbildverluste erlitte.
Mit besonderer Ausführlichkeit besprach Loos Theophil Hansens Akademie der bildenden Künste. Hymnisches Lob spendete er dem vermeintlichen Granitsockel (es handelt sich um Kalksandstein, der Fehler ist wohl dem Protokollanten und nicht Adolf Loos zuzuschreiben) und den darin eingelassenen Nebeneingang in der Makartgasse, an dem "Loos niemals vorübergehen [kann], ohne Bewunderung zu empfinden. Es ist das Vollkommenste, das wir haben." Die Monumentalität wird Loos zu folge durch den Überraschungseffekt bewirkt: Im Gegensatz zum Burgtheater, das Loos hier als Vergleich heranzog, drängt sich die Akademie nicht auf die Ringstraße hinaus, dadurch wird sie später gesehen und macht staunen. Zusätzlich wies Loos auf die Lage des Bauwerks in einem leicht zum Getreidemarkt abfallenden Gelände hin: Hansen glich den Niveauunterschied mit einem Sockel aus, der die Monumentalität des Bauwerkes auch von der Rückseite her wirkungsvoll in Szene setzte. "Solche Blicke machen eine Stadt reich." Minutiös wurden die einzelnen gestalterischen Elemente der Fassade analysiert. Besonders bemerkenswert erschien Loos die Tatsache, dass Hansen es wagte, unter ein und dasselbe Gesimse und unmittelbar nebeneinander Rundbogenfenster und gerade verdachte Fenster zu setzen, ohne dass der harmonische Zusammenklang darunter gelitten hätte.
Zum nächsten besichtigten Gebäude hatte Adolf Loos einen starken persönlichen Bezug. Im Festsaal des Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines hielt Loos zahlreiche Vorträge, darunter auch "Ornament und Verbrechen". Loos interpretierte die Fassade als stark von Hansens Akademie beeinflusst, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft befindet und zeitgleich entstanden war. Das Farbspektrum, das bei Hansen die Terrakotta bewirkte, hatte der Architekt Otto Thienemann hier durch unverputzten Backstein erreicht. Als Vorbild für den figuralen Schmuck über die segmentgiebelige Fensterverdachung erkannte Loos sowohl bei der Akademie als auch beim Gebäude des Österreichischen Ingenieur- und Gewerbevereines Michelangelos Grabmal für Giuliano di Lorenzo de' Medici in Florenz.
Das einzige eigene Werk, auf welches Loos abgesehen vom Haus auf dem Michaelerplatz während der Führung hinwies, befand sich im Haus Nibelungengasse 13. Das Gebäude gehörte Rudolf Kraus, einem Bruder von Karl Kraus. 1907 richtete er hier für ihn eine Wohnung ein, die Loos bei den im selben Jahr veranstalteten Wohnungswanderungen vorstellte. Zur Gestaltung der Wohnung kamen noch kleinere Eingriffe im Stiegenhaus hinzu: Loos erwähnte, dass er die Stiegenhausfenster vergrößert habe, um den Raum besser zu beleuchten. Zudem hat er den Eingangsbereich bis unter die Decke mit Marmorplatten verkleidet. In diesem Zusammenhang kann sich Loos einen Seitenhieb auf Hoffmanns Grabencafé nicht verkneifen: Hoffmann sei ein schlechter Architekt und nicht einmal in der Lage, Naturstein richtig einzusetzen. Tatsächlich ist der Gebrauch von Marmor bei Loos ein ganz anderer als bei Josef Hoffmann: Während Loos sich bemühte, die Schnittsymmetrie der Marmorplatten effektvoll einzusetzen um die Maserung über die Schnittfuge hinweg fortzusetzen, beachtete Hoffmann diese gestalterische Möglichkeit nicht und setzte die Platten unabhängig von ihrer natürlichen Maserung an die Wand.
Den Abschluss der zweiten Führung bildete die Besprechung der gegen die Babenbergerstraße gelegene Fassade des Kunsthistorischen Museums. Hier zeigte sich Loos einmal mehr als ergebener Anhänger von Gottfried Semper, dessen Projekt eines Kaiserforum er einen eigenen Führungstermin widmete. An dieser Stelle begnügte sich Loos mit eher technischen Hinweisen, die jedoch bei näherer Betrachtung erstaunliches zu Tage fördern: Loos legte mathematisch dar, wie es Semper gelang, den geländebedingt erforderlichen Sockel so mit den Pfeilerordnungen, die nach antiken Vorbildern bestimmte Höhen- und Breitenverhältnisse verlangen, in Einklang zu bringen, sodass das Bauwerk trotz unterschiedlicher Niveaus, auf denen sich ein Betrachter beim Abschreiten des Bauwerks befindet, weder gestaucht noch gestreckt wirkt. Während an der linken höher liegenden Gebäudekante die Basis des rustizierten Pfeilers auf dem Sockel steht und in der Farbe der Wand erscheint, hat Semper die auf der rechten, tiefer liegenden Gebäudekante befindliche Basis des Pfeilers in den Sockel integriert und ihm die Farbe des Sockels verliehen. Für diesen abwechselnden Niveauausgleich gliederte der Architekt den Pfeiler an der höher gelegenen Gebäudeecke in 10, den Pfeiler an der tiefer gelegenen Gebäudeecke jedoch in 13 rustizierte Felder. So bleibt die Gesamtproportion stimmig und der Niveauausgleich stört die Harmonie nicht.
Quelle
- Mitschrift zu Stadtführungen im Rahmen der Bauschule Adolf Loos. Wien, 1913-1914 / WBR, HS, ZPH 1442, schriftlicher Teilnachlass Adolf Loos, 1.4.20, Blatt 2-4
Literatur
- Harald Stühlinger: Adolf Loos als Führer zu Architektur und Städtebau. In: Adolf Loos. Schriften, Briefe, Dokumente aus der Wienbibliothek im Rathaus. Hg. von Markus Kristan, Sylvia Mattl-Wurm und Gerhard Murauer. Wien: Metroverlag 2018, S. 223 f.
- Burkhardt Rukschcio / Roland Schachel: Adolf Loos. Leben und Werk. Salzburg: Residenz Verlag 1982, S. 187 ff.
- Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Bd. 5 (Lfg. 24, 1971), S. 308f.