Wilde Siedlungen

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Ursprünglich wilde Rodungssiedlungen am Satzberg und Wolfersberg (1999)
Daten zum Eintrag
Datum von 1918
Datum bis 2000
Objektbezug Stadtplanung, Siedlungen, Zwischenkriegszeit, 1945 bis heute
Quelle
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Letzte Änderung am 4.01.2024 durch WIEN1.lanm08uns
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Bildunterschrift Ursprünglich wilde Rodungssiedlungen am Satzberg und Wolfersberg (1999)

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Seit 1918 erlangten verschiedene Typen „wilder“, d.h. in einem oder mehreren Aspekten illegale, oft mit gärtnerischer Nutzung verbundene Siedlungen im städtischen Weichbild eine große Verbreitung. Wohnungsnot, Nahrungsmittelknappheit, Arbeitslosigkeit und Mangel an Brennholz trieben viele Menschen zur Selbstermächtigung. Der Magistrat war der Lenkung der nach Kriegsende schlagartig einsetzenden extensiven Siedlerbewegung auf ausgedehnten Stadtrandflächen nicht gewachsen. Es wuchsen die Siedlungen so schnell und vielfältig, dass sie erst nachträglich zur Kenntnis des Bauamtes gelangten. Ein Teil von ihnen ging ab 1921 in der genossenschaftlichen, von der Gemeinde Wien unterstützten Siedlerbewegung auf, 1929 schuf die Stadt Wien eine eigene „Siedlungs- und Kleingartenzone“ zur planungsrechtlichen Konsolidierung einiger ungeregelt entstandener Anlagen. Das „wilde“ Siedeln erlebte allerdings in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre einen weiteren Schub, der sich in den Jahren der Not nach dem Zweiten Weltkrieg wiederholte. Erst mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und dem Wiedererstarken der städtischen Behörden kam das informelle Bauen um 1960 in die Defensive.

Reste des Bretteldorfs (1959)

Bürgermeister Franz Jonas hielt am 13. Februar 1955 eine Radiorede, in der er unter dem Titel „Wildes Siedeln - eine Gefahr für die Stadt“ den Wienerinnen und Wienern versuchte, die Problemlage, ihre Ursprünge und Konsequenzen näher zu bringen:

„Die bauliche Auflösung der Stadt, die uns in den letzten Jahrzehnten überrascht hat, und der wir aus den bitteren Nöten zweier Kriege leider nicht gleich Herr werden konnten, macht mir immer ernstere Sorgen. Das gilt für alle Gebiete, in denen verstreut kümmerliche Einzelbauten oder Häuserzeilen und ungeordnete Hausgruppen entstehen, von denen die Kinder weite Wege zur Schule, die Frauen weite Wege zum Kaufmann und die Männer zur Arbeitsstätte haben. Wir müssen uns alle verpflichtet fühlen, dieser ungeordneten Entwicklung entgegenzutreten, damit der Rand unserer Stadt nicht zu einer lieblosen Anhäufung von wilden Siedlungen wird, in denen sich der zwar gutgemeinte, aber falsch beratene persönliche Ehrgeiz der Siedler zum Schaden der Allgemeinheit auswirkt. […]
Brachland wurde zu Kleingärten, Hütten wurden errichtet, und schließlich war das ganze große Grundstück zu einer Siedlung geworden, mit Zäunen und Brettern abgesperrt. Die Lawine war ins Rollen gekommen. Jetzt kam unser Mann auf die Idee, überhaupt nur noch draußen in seinem Garten zu wohnen. Er baute ein richtiges Haus. Sein Nachbar kam auf denselben Geschmack und der dritte und der vierte auch. Doch wollte man freilich auch ein bißchen Komfort haben. Der fehlte jedoch. Keine Wasserleitung, kein elektrisches Licht, kein Gas, aber dafür ein weiter Anmarschweg zur Straßenbahn. Und da standen dann die vielen Schrebergärtner, die ohne böse Absicht zu wilden Siedlern geworden waren, wie ein Mann auf und marschierten ins Rathaus. Sie verlangten Straßen, Kanäle, Wasser und elektrischen Strom und einen Autobus, der sie zu ihrer Siedlung hinführt. Bei dieser Gelegenheit mußten sie jedoch erfahren, daß sie ihre Behausung auf einem Grund errichtet hatten, der hiezu entweder nicht geeignet oder über den ein Bauverbot verhängt war. Und jetzt war die Empörung groß. Aber nicht über den verantwortungslosen Grundstückverkäufer, sondern man schimpfte auf die Bürokraten im Rathaus, die einem nicht einmal das bißchen Freude gönnen! Seien Sie versichert, wir gönnen Ihnen die Freude an Ihrem Garten und an Ihrem Gartenhäuschen. Ja, die Gemeinde ist sogar der Ansicht, daß Ihr Bestreben lobenswert und unterstützungswürdig ist. Aber nur am richtigen Ort und in der richtigen Art. […] In vielen Fällen war nicht allein die Freude am eigenen Garten, sondern auch die Wohnungsnot die Ursache für das wilde Siedeln. Die Wohnungsuchenden griffen zur Selbsthilfe. Sie erwarben draußen am Rand der Stadt ein Stückchen Grund, dessen Preis ihnen sehr vorteilhaft schien. […] Seit Jahrzehnten ist diese Entwicklung vor sich gegangen. Das Ergebnis ist eine vollkommen ungeordnete, regellose Verbauung, die den Siedler nie voll befriedigt, die aber dem Stadtplaner, der Stadtverwaltung, dem Natur- und Landschaftsschutz und nicht zuletzt dem Verantwortlichen für die Stadtfinanzen immer ernstere Sorgen bereitet. Es […] muß auf jeden Fall erreicht werden, daß die bestehenden wilden Siedlungen nicht weiterwachsen. Mit noch größerer Energie muß aber verhindert werden, daß wilde Siedlungen neu entstehen. […] Wenn wir alle in dem Willen einig sind, daß an keiner Stelle mehr eine wilde Siedlung entstehen darf, dann werden wir die unheilvolle Entwicklung abstoppen können.“[1]


Zwar gelang es, die weitere Ausdehnung der „wilden“ Anlagen einzudämmen, die seit den späten 1940er Jahren in der Stadtplanung oft diskutierten Pläne zur großflächigen Absiedlung von Siedlungen und ordnungswidrig genutzten Kleingartenanlagen blieben allerdings weitgehend auf dem Papier. Von den zwischen 1918 und den 1950er Jahren besiedelten einschlägigen Arealen existieren noch heute etwa 90% der Siedlungen und 70% der Kleingärten. Geräumt wurden vor allem Kleingartenanlagen am Rand dicht bebauter Stadtviertel (z.B. am Wienerberg oder in der oberen Brigittenau) sowie Siedlungen, die wichtigen Infrastrukturbauvorhaben in die Quere kamen (z.B. das Bretteldorf oder einige Siedlungen am Areal des heutigen Autobahnknotens Kaisermühlen). Von den vielfältigen Reform- und Sanierungsvorschlägen wurde gleichfalls wenig umgesetzt, seit den 1950er Jahren wurden jedoch viele Siedlungen vom Magistrat nachträglich infrastrukturell versorgt und „aufgerüstet“. Das betraf Straßenbau, Hangsicherungen, Wildbachverbauungen ebenso wie den Anschluss an Versorgungsnetze (Strom, Wasser, Gas, Kanal etc.) oder soziale Einrichtungen wie Schulen. Die „baurechtliche Sanierung“ genannte nachträgliche Legalisierung vieler ehedem „wilder“ Siedlungsgebiete zog sich bis in die jüngere Vergangenheit. Noch 1997 wies das Amtsblatt der Stadt Wien 249 Gebiete aus, in denen der Baubestand zu diesem Zeitpunkt überwiegend keine Genehmigung hatte.[2] Bis heute sind die ursprünglich "wild" entstandenen Siedlungsgebiete ein wichtiger Bestandteil des Wiener Siedlungskörpers.

Zu diesem Kleingartenhaus vermerkt Roland Rainer 1962 in seinem "Planungskonzept Wien", dass weder die vorgeschriebene Maximalgröße von 25 m² Grundfläche noch die „Leichtbauweise“ eingehalten wurden. Auch der Rauchfang wäre nicht zulässig gewesen, da eine Sommerhütte nicht ganzjährig bewohnt werden durfte.
Ackersiedlungen im Umfeld des Flugfelds Aspern (1958)
Ungeregelte Bebauung in Kleingärten am westlichen Rand des konsolidierten Stadtbereichs bei der Ameisbachzeile (1959)

Siedlungstypen und -formen

Die „wilden“ Siedlungen in Wien waren ein vielfältiges, oft schwer ein- und abgrenzbares Phänomen. Sie wurden im Fachdiskurs auch als „Gemengesiedlungen“, „Parzellensiedlungen“ oder „Übergangssiedlung“ bezeichnet. Als Sonderfall galten die „Kleingartensiedlung“ und die „Sommerhüttensiedlung“. Eine Einteilung kann beispielsweise nach Graden der Informalität erfolgen. So gab es „Squattersiedlungen“, wo Terrain ohne Einverständnis des Grundeigentümers besiedelt wurde, etwa bei zuvor „wild“ gerodeten Flächen im Wienerwald (z.B. Hörndlwald oder Wolfersberg). In der Regel erfolgte die Flächennutzung und Bebauung entgegen der im Bauzonenplan bzw. später im Flächenwidmungs- und Bebauungsplan festgesetzten Bestimmungen, etwa durch die Besiedlung von Flächen im Wald- und Wiesengürtel (z.B. am Biberhaufen), wo de jure Bauverbote galten. Als Baugebiet gewidmete Flächen waren wiederum oft nicht baureif aufgeschlossen und daher zur Besiedlung ungeeignet (z.B. in der Gemarkung Essling). Kleingartenanlagen, die ab Mitte der 1920er Jahre in vielen Fällen über zumindest befristete Pacht- und Nutzungsverträge mit der Gemeinde Wien verfügten, wurden nicht selten widmungswidrig ganzjährig bewohnt, die Hütten zu Einfamilienhäusern ausgebaut. Einige Areale wurden so zur Dauersiedlung und erhielten später eine entsprechende Flächenwidmung als Wohngebiete. Grabe- bzw. Erntelandparzellen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs stabilisierten sich wiederum bisweilen zu Kleingärten. In allen Siedlungstypen und -formen waren bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Hütten, Behelfsheime oder Häuser – oft im Eigenbau – ausgeführt, die nicht der Bauordnung entsprachen.

„Wilde“ Siedlungen können auch nach ihrer Entstehung und Morphologie kategorisiert werden: „Ackersiedlungen“ nahmen, zumal auf dem linken Donauufer, die größte Fläche unter den mehr oder minder informell entstandenen Siedlungen ein. Sie wurden entweder durch direkten Kauf der Bauwilligen von den früheren Grundbesitzern oder auf dem Umweg über den Grundstücksmakler auf parzelliertem Ackerland erworben oder auch gepachtet. Da auf diesem Weg fast immer nur einzelne Felder verfügbar wurden, ergaben sich oft seltsame Gestaltungen, in deren Grundriß die alte Flurform entscheidend nachwirkte. Sie ziehen sich auf einer einzigen Gewannparzelle oft über einen halben Kilometer und mehr dahin (Jedlersdorf, Leopoldau, Kagran etc.). Öfters wurden mehrere Ackerparzellen nebeneinander erschlossen, zwischen denen noch agrarisch genutzte Streifen erhalten blieben. Wenn auch diese verbaut wurden, bildeten sich große zusammenhangende Komplexe, wie die Siedlung Oberlisse bei Gerasdorf (1938-1954 im Wiener Gemeindegebiet). „Rodungssiedlungen“ im Wienerwald und den Donauauen entbehrten ebenfalls ursprünglich der Rechtsgrundlagen. In physiognomischer und funktioneller Hinsicht waren sie den Ackersiedlungen ähnlich, wiesen aber kaum Brachparzellen auf. Manche wurden schon früh in Kleingartensiedlungen umgewandelt, etwa die SAT-Siedlung im Süden des Hörndlwaldes. Ein besonders klares Beispiel einer spontanen Rodungssiedlung ist die in den 1930er Jahren angelegte Siedlung Kordon am Satzberg. Kleingartensiedlungen fanden sich bis in die 1960er Jahre häufig an den ausfransenden Rändern und im „Spekulationsvorfeld“ des gründerzeitlichen Blockrasters. Oft waren hier fragmentarische Parzellierungen und Leitplanungen formgebend, etwa am Wienerberg (z.B. Friesenplatz) oder an den Rändern der Donauregulierungsgründe in der oberen Brigittenau bzw. zwischen Ausstellungsstraße und Stadlauer Ostbahnbrücke. Eine Reihe wilder Siedlungen entstand auch auf Brachflächen und erhielt von ihnen das räumliche Gepräge. Eine Vielzahl von Kleingartenanlagen wurde auf Eisenbahnanlagen bzw. entlang von Bahndämmen angelegt, auf der Schmelz und in Atzgersdorf fielen Exerzierfelder der wilden Besiedlung zum Opfer. Die Siedlung Bruckhaufen entstand auf einer Schutt- und Müllhalde, um den Ortskern von Leopoldau wurden aufgelassene Kiesgruben besiedelt. Im Süden Wiens finden sich in Kleingartenanlagen umgewandelte ehemalige Ziegeleien (nördlich des heutigen Laaer Walds, am Schwimmschulteich, am Steinsee oder am Schellensee).

Literatur

  • Hans Bobek & Elisabeth Lichtenberger: Wien. Bauliche Gestalt und Entwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Wien: Verlag Hermann Böhlaus Nachf. 1978, S. 155-164
  • Karl Heinrich Brunner: Stadtplanung für Wien. Bericht an den Gemeinderat der Stadt Wien. Wien, Verlag für Jugend und Volk 1952, S. 185-201
  • Friedrich Hauer & Andre Krammer: Das wilde Wien. Rückblick auf ein Jahrhundert informelle Stadtentwicklung. In: dérive - Zeitschrift für Stadtforschung 71 (2018), S. 8-19
  • Robert Hoffmann: "Nimm Hack' und Spaten ...": Siedlung und Siedlerbewegung in Österreich 1918 – 1938. Wien: Verl. für Gesellschaftskritik 1987
  • Werner Jäger: Organische oder wilde Siedlung. Gedanken zur Sanierung der wilden Siedlungen. In: Der Aufbau 5 (1950), S. 517-529
  • Franz Jonas: Wiener Probleme. Eine Sammlung der Radioreden des Bürgermeisters der Stadt Wien, Franz Jonas, 1954-1955. Wien: Verl. für Jugend und Volk 1955
  • Roland Rainer: Planungskonzept Wien. Herausgegeben von der Wiener Stadtbauamtsdirektion. Wien: Verlag für Jugend und Volk, 1962, S. 63-69; 166-175
  • Franz Schuster: Die Planung eines schöneren Wiens ist gefährdet. In: Der Aufbau 2 (1947), S. 29-35

Referenzen

  1. Franz Jonas: Wiener Probleme. Eine Sammlung der Radioreden des Bürgermeisters der Stadt Wien, Franz Jonas, 1954-1955. Wien: Verl. für Jugend und Volk 1955, S. 117-125
  2. Amtsblatt der Stadt Wien, Jahrgang 102, Nr. 26A, 26. Juni 1997