Pädiatrie

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Säuglingsstation in der Kinderklinik Glanzing
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Quelle Felix Czeike: Historisches Lexikon Wien
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Bildname Kinderklinik Glanzing 1.jpg
Bildunterschrift Säuglingsstation in der Kinderklinik Glanzing

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Anfänge im Zeichen der Aufklärung

Bis in das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts wurden kranke Kinder gemeinsam mit Erwachsenen in Spitälern behandelt. Ein Bewusstsein für kinderspezifische Krankheiten existierte in der Medizin nicht. Diese wurden als Teil der Geburtshilfe oder aber der Inneren Medizin betrachtet. Einen ersten Schritt in Richtung der Etablierung der Pädiatrie (Kinderheilkunde; griech. παῖς = Kind) setzte Joseph Jann Mastalier (1757-1793), der 1787 mit Unterstützung Kaiser Josephs II. eine Poliklinik für Kinder ärmerer Schichten einrichtete. Daraus entstand das Kinder-Krankeninstitut. 1794 erwirkte Leopold Anton Gölis (1764-1827) das Öffentlichkeitsrecht für dieses Institut. In seinen von Rousseau beeinflussten Schriften stand Gölis in der Tradition der Aufklärungsliteratur. Er propagierte das Stillen der Kinder, die Bewegung im Freien und kritisierte das Wickeln von Säuglingen und Kleinkindern. In einem zweibändigen Werk befasste sich Gölis mit der Diphterie und kinderspezifischen Gehirnkrankheiten. Mit der Entwicklungsgeschichte des Kindes beschäftigte sich einer der Nachfolger von Gölis, Johann Elias Loebisch (1795-1853). Kinderpsychologie und Diätetik standen bis in die 1850er Jahre im Mittelpunkt des einschlägigen Schrifttums. Erst mit Johann Malfatti setzte sich die medizinische Überzeugung durch, dass es spezifische Kinder- und Erwachsenenkrankheiten gibt. In der Therapie blieb es aber bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bei humoralpathologischen purgativen Methoden (Abführmittel, Brechmittel).

Das universitäre Fach Kinderheilkunde vor der Bakteriologie

Die erste außerordentliche Professur für Kinderheilkunde erlangte 1851 Ludwig Wilhelm Mauthner (1806-1858). Mauthner hatte auf eigene Kosten 1837 das erste Kinderspital in Wien eröffnet, welches 1850 zum St.-Anna-Kinderspital umgewandelt und zur Universitätsklinik erklärt wurde. Die Verselbständigung der Pädiatrie als eigene Disziplin erfolgte 1851 mit der Ernennung Mauthners zum ao. Prof. für Kinderheilkunde. Wichtige Fachvertreter der Frühzeit waren Leopold Maximilian Politzer, Carl Hochsinger, Max Kassowitz, Alois Bednař und Franz Mayr.

Diagnostisch-pathologisch erzielte Bednař in dieser jungen Disziplin einige Erfolge. Ab 1844 im Wiener Findelhaus tätig verfügte er über eine breite Erfahrung mit klinischen Beobachtungen. Er erkannte, dass die Durchfallerkrankungen bei Säuglingen mit der Kindernahrung zu tun hatten ("Gärung") und dass die Gründe für die Sepsis von Kindern beim Kindebettfieber der Mütter zu suchen waren. 1857 publizierte Bednař eine "Kinder-Diätetik". Die Entwicklung einschlägiger Therapien gelang jedoch erst Leopold Maximilian Politzer (1814-1888). Er machte sich um die physiologische Forschung verdient, konzentrierte sich auf Stoffwechseluntersuchungen bei Säuglingen und Kleinkindern durch Vermessungen. Politzer gelang der Nachweis, dass Säuglinge auch mittels ihres Speichels Stärke in Zucker verwandeln können. Außerdem entwickelte er eine Differentialdiagnostik bei Gehirnerkrankungen im Kindesalter und beschrieb als erster Asthma bronchiale wissenschaftlich. In der Therapie verwarf Politzer purgative Verfahren und setzte auf die Gabe von Eisen und Chinin. Ab 1858 habilitiert erhielt er 1877 eine Professur an der Universität Wien.

In den 1870er Jahren wurden regelmäßige Gewichtsmessungen bei erkrankten Kindern von Ludwig Fleischmann (1841-1911) in der 1. Kinderambulanz der Poliklinik eingeführt. Entscheidende Impulse erfuhr die Pädiatrie durch die Ordinarien Hermann Widerhofer und Theodor Escherich. Zu Widerhofers wichtigsten Schülern zählte Alois Monti, der an der Allgemeinen Poliklinik wirkte.

Das bakteriologische Zeitalter

Nachdem in den 1870er Jahren zahlreiche Kinderspitäler auf private Initiative gegründet worden waren, richtete man erstmals in den 1890er Jahren Isolierstationen für an Diphterie und Scharlach erkrankte Kinder ein. Bis dahin wurden Säuglinge jedoch nicht in Kinderspitälern, sondern nur in Kinderambulatorien und im Findelhaus behandelt. Mit Theodor Escherich (1857-1911) begann das bakteriologische und serologische Zeitalter in der Geschichte der Kinderheilkunde in Wien. Escherich befasste sich in seinen frühen Arbeiten mit der Keimfreiheit der Muttermilch und mit Darmbakterien beim Säugling. Bereits rasch nach Bekanntwerden der Diphterie-Impfung wurde diese ab 1894 in Wien eingeführt. In einer Untersuchung über Diphterie wies Escherich Antitoxine bei spontan geheilten Kindern nach. Auf Escherichs Initiative wurde auch das St.-Anna-Kinderspital erweitert, unter anderem durch Einrichtung eines Laboratoriums und eines Röntgenzimmers. Zudem wurde eine eigene Säuglingsabteilung eingerichtet. Auf seine Initiative wurde auch eine Pflegerinnenschule und eine Mütterberatung installiert. Nach Escherichs Tod übernahm Clemens Pirquet die Universitätskinderklinik und übersiedelte mit dieser ins Allgemeine Krankenhaus. Mit Béla Schick hatte Pirquet das Konzept der Allergie entwickelt und verhalf damit der Wiener Pädiatrie zu Weltruf. Pirquet entwickelte 1907 den Tuberkulintest und erwarb bei der Behandlung von Kindertuberkulose große Verdienste. Er wies nach, dass Unterernährung einen besonderen Risikofaktor für Tuberkulose darstellte. Besonders während und nach dem Ersten Weltkrieg erwarb er sich große Verdienste was die Kinderausspeisungen anlangt. Dabei kamen ihm seinen guten Kontakte, er hatte an der John Hopkins Universität in Baltimore unterrichtet, zugute. Durch Pirquets Allergielehre wurde die Entdeckung des von Béla Schick 1908 entwickelten intrakutanen Diphterietests möglich. Sie leistete auch einen wichtigen Beitrag zur Erklärung der Entstehung von Exathemen bei verschiedenen Infektionskrankheiten. Pirquets Nachfolger an der Universitätsklinik für Kinderheilkunde wurde Franz Hamburger. Hamburger entwickelte die Begrifflichkeit vom "arteigenen und artfremden Eiweiß". Im "Roten Wien" wurde die Kinderheilkunde ein Sammelpunkt sozialdemokratischer, sozialmedizinisch orientierter Ärzte, die in den städtischen und Fondskrankenanstalten tätig waren.

NS-Zeit

Mit Franz Hamburger hielt ein pronationalsozialistische und antikatholische Fraktion in der Wiener Kinderheilkunde ihren Einzug. Jüdische Ärzte wurden systematisch verdrängt. 1940 begann Dr. Erwin Jekelius an der Kinderklinik mit Kindereuthanasie. Der Psychiater Hans Bertha wurde 1942 vorübergehend Leiter der Kindereuthanasieanstalt "Am Spiegelgrund", später der Anstalt "Am Steinhof".

Kinderheilkunde nach 1945

Zu den bedeutenden Fachvertreter nach 1945 zählten Erwin Lazar, August von Reuss, Karl Kundratitz und Hans Asperger. Reuss befasste sich vor allem mit der Neugeborenenfürsorge. In diesem Zusammenhang betrieb er den Ausbau von Schwangeren- und Mutterberatungsstellen in ganz Österreich. Karl Kundratitz widmete sich besonders der Bekämpfung der Infektionskrankheiten des Kindesalters. Der Schwerpunkt der Tätigkeit von Hans Asperger lag in der Heilpädagogik. In seinen Forschungen beschäftigte er sich mit frühkindlichem Autismus ("Asperger-Syndrom") und postenzephalitischen Persönlichkeitsstörungen. In seiner Nachfolge stand Ernst Zweymüller, der sich mit dem Wasser- und Elektrolythaushalt von Kindern befasste. Der Vorstand der Universitätsklinik schon im Neuen Allgemeinen Krankenhaus wurde Radvan Urbanek, ein Spezialist für Allergien.

Literatur

  • Egwuatu Atuanya: Personalbibliographie der Professoren und Dozenten der Kinderklinik an der Medizinischen Fakultät der Universität zu Wien von 1850 bis 1920. Diss. Univ. Erlangen. Erlangen 1972
  • Heidi Dorschel: Die frühe Wiener Pädiatrie (1780-1870). Diss. Univ. Heidelberg. Heidelberg 1967
  • Sophokles Ghinopoulo: Die Anfänge der Wiener Pädiatrie. In: Zeitschrift für Kinderheilkunde 45 (1928), S. 501 ff.
  • Erna Lesky: Die Wiener medizinische Schule im 19. Jahrhundert. Wien [u.a.]: Böhlau 1965 (Studien zur Geschichte der Universität Wien, 6), S. 53 ff., S. 166 ff., S. 359 ff.
  • Erna Lesky: Paediatrica Vindobonensia. In: Pädiatrie und Pädologie 6 (1971), S.217 ff.
  • Max Neuburger: Aus der Vergangenheit der Wiener Pädiatrie. In: Wiener klinische Wochenschrift 45 (1932), S. 1149 ff.
  • Max Neuburger: The history of pediatrics in Vienna. In: Medical Record 156 (1943), S. 746 ff.
  • Leopold Schönbauer: Das Medizinische Wien. Geschichte / Werden / Würdigung, Berlin-Wien: Urban & Schwarzenberg 1944.
  • Karl Heinz Tragl: Chronik der Wiener Krankenanstalten. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2007, S. 159-163.
  • Elisabeth Wiesbauer: Das Kind als Objekt der Wissenschaft. Medizinische und psychologische Kinderforschung an der Wiener Universität 1880-1914. Wien / Salzburg: Löcker 1982