Schulreform im "Roten Wien"
Das "Rote Wien" der Zwischenkriegszeit kann als Projekt der Spätaufklärung bezeichnet werden. In diesem Sinn zählte die von Otto Glöckel maßgeblich gestaltete Bildungsreform zu einem der zentralen politischen Eckpfeiler. Eine Voraussetzung für das pädagogische Ziel einer umfassend gebildeten, aufgeklärten städtischen Bevölkerung bildete eine Neuorganisation des Schulwesens. Eine solche strebte Glöckel, der bis 1920 in der Regierung als Unterstaatssekretär für das Bildungswesen – das entsprach einem "Unterrichtsminister" – zuständig war, bereits in dieser Funktion an. Der sich abzeichnende "Kulturkampf" zwischen den Sozialdemokraten und liberalen Kräften einerseits und der katholischen Kirche und bürgerlich-konservativen Kräften andererseits, die ihren dominierenden Einfluss auf das Bildungswesen nicht verlieren wollten, verhinderte jedoch größere Veränderungen.
Vorgeschichte
Schon in Schulreformbewegungen, die ab etwa 1900 entstanden, wurde die Gemeinschaftserziehung, das Prinzip des Arbeitsunterrichtes und eine "Pädagogik vom Kinde aus" propagiert. Auf diesen Überlegungen baute auch Otto Glöckels Schulreform auf und darauf nahm er auch schon in seiner Tätigkeit als Staatssekretär Bezug.[1] Nach dem Auseinanderbrechen der großen Koalition im Sommer 1920 suchte Glöckel sein Reformprogramm als Präsident des Stadtschulrats für Wien zu verwirklichen. Glöckel trat zunächst als Mitglied in den Wiener Bezirksschulrat ein, der damals noch dem Niederösterreichischen Landesschulrat unterstellt war. Durch die Trennung von Wien und Niederösterreich wurde jedoch der Weg für die Gründung des Wiener Stadtschulrats frei. Deren geschäftsführender Zweiter Präsident wurde Glöckel. Sein Ziel war, Wien zur "Musterschulstadt" zu machen.[2]
Das Reformkonzept
Die durch das Gedankengut der Reformpädagogik gekennzeichnete Reform wurde durch Glöckel und Viktor Fadrus in Angriff genommen und teilweise realisiert. Sie orientierte sich an liberalen Erziehungsidealen und dem Versuch, sich der Chancengleichheit im Schulsystem anzunähern. Im Sinne der Trennung von Kirche und Staat wurde die verpflichtende Teilnahme an religiösen Übungen (nicht am Religionsunterricht) wie Messen abgeschafft. Als Ziel galt "die ganze Schule für das ganze Volk". Die Schülerhöchstzahl pro Klasse wurde mit 29 begrenzt, ein Züchtigungsverbot gegenüber Schülerinnen und Schülern ausgesprochen. Schülerbeschreibungsbögen ergänzten das traditionelle Notensystem. Die Gründung von Elternvereinen sollte die Demokratisierung des Schulwesens befördern.[3] Dazu kam die Einrichtung von Schul- und Lehrerbibliotheken.
Otto Glöckels Reformkonzept ging von mehreren Prämissen aus: die demokratisch-amilitärische, die weltliche, die sozialgerechte, die lebens- und arbeitsgerechte und die wissenschaftsfundierte Schule.[4] Zur Verwirklichung der Schulreform versammelte Glöckel einen Kreis pädagogischer Experten um sich, die die Umsetzung im Detail erarbeiten sollten. Zu ihnen zählten Viktor Fadrus, Hans Fischl und Carl Furtmüller.[5] Über Versuchsklassen, rund 1.600 Arbeitsgemeinschaften in den Lehrervereinen und unter der Leitung der Schulreformabteilung des Stadtschulrats fand eine Erprobung der erarbeiteten Konzepte statt. Hauptziele war die Neugestaltung des Pflichtschulunterrichts und die Umgestaltung der Schulorganisation und des Schulaufbaus mit dem Ziel, die Erlangung höherer Bildung auch für Schülerinnen und Schülern aus der städtischen Mittel- und Unterschicht (Arbeiterschaft, Kleinbürgertum) zu ermöglichen.[6]
Kernprinzip war eine "Pädagogik vom Kinde aus", die sich auf Arbeitsunterricht, Gesamtunterricht und Bodenständigkeit stützte. Anstelle der direkten Unterweisung durch die Lehrpersonen sollten die Schülerinnen und Schüler Lehrinhalte selbst erarbeiten. Die sogenannte "Arbeitsschule" sollte anschaulich, lebensnah und spielerisch Lesen, Schreiben und Rechnen vermitteln. Der Gesamtunterricht vereinigte verschiedene Fächer zu einem Thema (zum Beispiel Geographie, Geschichte, Naturgeschichte). In diesem Sinn wurde etwa der Heimatkundeunterricht eingeführt und generell die Schulbücher modernisiert und überarbeitet. Für den Leseunterricht stellte die Einführung der "Wiener Klassenlektüre" einen wichtigen Schritt dar. Schon 1923/1924 standen 98 dieser Lesebändchen, im Endausbau schließlich 120 zur Verfügung. Diese von Viktor Fadrus und Karl Linke ausgearbeiteten Bücher sollten spielerisch belehren, ohne belehrend zu wirken.[7] Im Rahmen dieser Bemühungen kam auch eine Serie von Heimatkundebüchern über alle Wiener Bezirke heraus. In den fächerübergreifenden Gesamtunterricht bildeten "Lehrausgänge" ein verbindendes, neues Element.
Schulpolitik im "Roten Wien"
Arbeitsschulmethoden wurden in der Volksschule erprobt; die Grundsätze der Selbsttätigkeit, Bodenständigkeit und Konzentration wurden auf die Bürgerschule, später ersetzt durch die Hauptschule übertragen. Da die Schulreform aus politischen Gründen weitgehend auf Wien beschränkt bleiben musste, konnten die geplanten schulorganisatorischen Maßnahmen (gemeinsame Mittelstufe für die Zehnjährigen bis 14-Jährigen, hochschulmäßige Lehrerausbildung) in den übrigen Bundesländern nicht umgesetzt werden. Im Rahmen von Schulversuchen gelang es immerhin, in 18 Gymnasien, Realgymnasien, Realschulen und Hauptschulen "Deutsche Mittelschulen" für den gemeinsamen Unterricht von elf- bis 14-jährigen Schülerinnen und Schülern temporär umzusetzen.[8] In Verbindung zur Gesundheitspolitik mit Schwerpunkt Jugendfürsorge und Prävention wurden 50 Schulärzte und 210 Schulfürsorgerinnen eingestellt, des weiteren Schulzahnkliniken eingerichtet.
Die Umsetzung der Schulreform im "Roten Wien" erfolgte auf drei Ebenen: a) der Schulversuche, b) der inhaltlichen Umgestaltung der Lehrinhalte, c) der Lehrerfortbildung. In den Schuljahren 1922/1923 bis 1926/1927 wurde an sechs Bürgerschulen die "Allgemeine Mittelschule", eine Art differenzierte Gesamtschule, eingeführt. Diese wurde in den Hauptfächern in zwei Klassenzügen geführt. Was die innere Umgestaltung der Lehrpläne anlangt, wurde bereits 1920 ein solcher provisorisch für die Volksschulen erarbeitet. Für die Lehrbücher sorgte ein von der Stadt Wien zu diesem Zweck eingerichteter Verlag: Jugend & Volk. Was die Lehrerbildung anlangt, sorgte das 1922 gegründete Pädagogische Institut der Stadt Wien dafür, dass das Lehrpersonal in der Aus- und Fortbildung auf die neue Schule vorbereitet wurde. In vier Semestern erhielten Lehramtsstudentinnen und –studenten eine schulpraktische und pädagogische Ausbildung. Fortbildungsvorträge von prominenten Universitätslehrern wie Hans Kelsen, Alfred Adler, Max Adler und Anna Freud ergänzten das Angebot.[9] Die Angebote wurden von den Lehrerinnen und Lehrern großteils positiv aufgenommen.
Der auf Ebene des Bundes 1927 erreichte Bildungskompromiss führte zur Abschaffung der traditionellen "Bürgerschule" und Einführung einer aufgewerteten zweistufigen "Hauptschule".[10]
Möglichkeiten und Grenzen der Bildungsreform
Abgesehen vom erbitterten Widerstand der katholischen Kirche und weiter Teile des bürgerlichen politischen Spektrums stieß die Schulreform im "Roten Wien" an zwei bedeutende Grenzen. Zum einen gelang es nur eine Minderheit von reformorientierten Lehrpersonal aufzunehmen beziehungsweise vom übernommenen Lehrpersonal nur einen kleineren Teil von den Zielen der Reform zu überzeugen. Nur im Fall der Volksschullehrerinnen und -lehrer stammten diese mehrheitlich aus dem sozialdemokratischen Milieu. Da der Stadtschulrat auf Kündigungen verzichtete, blieb damit ein erheblicher Teil der Lehrerschaft in innerer Opposition zum Reformwerk. Zum anderen waren große Teil der Arbeiterschaft an einer höheren Ausbildung ihrer Kinder gar nicht interessiert, weil diese möglichst bald zum knappen Familieneinkommen beitragen sollten.[11] Die von den sozialdemokratischen Mittelschülern heftig geforderte Mitbestimmung fand nicht statt. Auch die Möglichkeiten der Elternvereine blieben sehr beschränkt. Insgesamt gelang aber eine zunehmende Öffnung des Bildungssystems auch in Richtung höherbildender Schulen wie sich anhand steigender Schülerzahlen belegen lässt.[12]
Als die Sozialdemokraten nach den Februarereignissen des Jahres 1934 jeden Einfluss und auch die Leitung des Stadtschulrats verloren, insbesondere aber die Ausrufung des Ständestaats zu einer grundlegenden politischen Richtungsänderung (auch auf dem Sektor der Pädagogik) führte, wurden die Reformbemühungen abrupt unterbrochen; nach dem Zweiten Weltkrieg wurde an die Reformen der 1920er Jahre angeknüpft.
Literatur
- Oskar Achs: Das Rote Wien und die Schule. In: Das Rote Wien 1918-1934 (177. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien). Wien: Eigenverlag 1993
- Oskar Achs [Hg.]: Schule damals − Schule heute. Otto Glöckel und die Schulreform [Ausstellungskatalog]. Wien [u.a.]: Jugend und Volk 1985
- Oskar Achs: Zwischen Gestern und Morgen. Carl und Aline Furtmüllers Kampf um die Schulreform. Wien: LIT-Verlag 2015
- Oskar Achs / Albert Krassnigg: Drillschule, Lernschule, Arbeitsschule. Otto Glöckel und die österreichische Schulreform in der Ersten Republik. Wien [u.a.]: Jugend und Volk 1974
- Oskar Achs / Eva Tesar: Schule damals – Schule heute. Otto Glöckel und die Schulreform. Wien / München: Jugend & Volk 1985
- Erik Adam: Austromarxismus und Schulreform. In: Peter Heintel / Norbert Leser / Gerald Stourzh / Adam Wandruszka: Die Schul- und Bildungspolitik der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1983 (Quellen und Studien zur österreichischen Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, 3), S. 271-416
- Erik Adam: Austromarxismus und Schulreform. Die Schul- und Bildungspolitik der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik, Wien 1983
- Ludwig Boyer: Schule damals – Schule heute. Otto Glöckel und die Schulreform. Wien / München: Jugend & Volk 1990
- Peter Eigner / Andreas Weigl: Karte "Bildungsgrad der Bevölkerung 1870/71-1934/35". In: Historischer Atlas von Wien. 5. Lieferung. Wien: Pichler Verlag 1995
- Helmut Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs. Band 5. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1988
- Hans Fischl: Wesen und Werden der Schulreform in Österreich. Wien: Deutscher Verlag für Jugend und Volk 1929
- Otto Glöckel: Ausgewählte Schriften und Reden. Hg. von Oskar Achs. Wien: Jugend und Volk 1985
- Otto Glöckel − Mythos und Wirklichkeit. Schulreformen. Wien: Jugend & Volk 1985 (Schulhefte, 35)
- Otto Glöckel: Die österreichische Schulreform. Einige Feststellungen im Kampfe gegen die Schulverderber. Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlung 1923
- Wilfried Göttlicher: Wiener Schulreform? Österreichische Schulreform? Die Schulreform Otto Glöckels, das Rote Wien und der schulpolitische Dualismus. In: Österreich Geschichte Literatur Geographie 65 (2021), S. 310-324
- Helmut Gruber: Red Vienna. Experiment in Working-Class Culture 1919-1934. Oxford: Oxford University Press 1991
- Wolfgang Maderthaner: Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945. In: Peter Csendes / Ferdinand Opll (Hg.): Wien. Geschichte einer Stadt. Band 3, Wien-Köln-Weimar: Böhlau-Verlag 2006, S. 175-544
- Hans Matzenauer [Hg.]: Die Schulreform geht weiter. Vorträge und Diskussionen anläßlich des Symposions zum 50. Todestag von Otto Glöckel. Wien [u.a.]: Jugend und Volk 1985
- Friedrich Ostwald: Die Bildungsreform in der Ersten Republik – Schulreform 1927/28. In: Geistiges Leben im Österreich der Ersten Republik. Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1986, S. 231-248
- Horst Pfeifle: Otto Glöckel und die Organisation des Bildungswesens. In: Geistiges Leben im Österreich der Ersten Republik. Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1986, S. 264-278
- Willi Urbanek [Hg.]: Auf der Spurensuche nach Otto Glöckel. Zur Bildungsrevolution Otto Glöckels. Wien: Pädagogische Akademie des Bundes in Wien 2006
- Zehn Jahre Schulreform in Österreich. Eine Festgabe. Otto Glöckel dem Vorkämpfer der Schulerneuerung gewidmet von seinen Mitarbeitern. Wien: o.V. 1929
Links
- Wikipedia: Wiener Schulreform
- Das rote Wien. Weblexikon der Wiener Sozialdemokratie: Wiener Schulreform
Einzelnachweise:
- ↑ Friedrich Ostwald: Die Bildungsreform in der Ersten Republik – Schulreform 1927/28. In: Geistiges Leben im Österreich der Ersten Republik. Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1986, S. 233; Erik Adam: Austromarxismus und Schulreform. In: Peter Heintel / Norbert Leser / Gerald Stourzh / Adam Wandruszka: Die Schul- und Bildungspolitik der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1983 (Quellen und Studien zur österreichischen Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, 3), S. 278.
- ↑ Helmut Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs. Band 5. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1988, S. 73.
- ↑ Wolfgang Maderthaner: Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945. In: Peter Csendes / Ferdinand Opll (Hg.): Wien. Geschichte einer Stadt. Band 3, Wien-Köln-Weimar: Böhlau-Verlag 2006, S. 368-370.
- ↑ Albert Krassnigg / Oskar Achs: Drillschule – Lernschule – Arbeitsschule. Otto Glöckel und die österreichische Schulreform in der Ersten Republik. Wien / München: Jugend & Volk 1974 (Pädagogik der Gegenwart, 112), S. 107-118.
- ↑ Oskar Achs: Zwischen Gestern und Morgen. Carl und Aline Furtmüllers Kampf um die Schulreform. Wien: LIT-Verlag 2015.
- ↑ Albert Krassnigg / Oskar Achs: Drillschule – Lernschule – Arbeitsschule. Otto Glöckel und die österreichische Schulreform in der Ersten Republik. Wien / München: Jugend & Volk 1974 (Pädagogik der Gegenwart, 112), S. 105.
- ↑ Oskar Achs / Eva Tesar: Schule damals – Schule heute. Otto Glöckel und die Schulreform. Wien / München: Jugend & Volk 1985, S. 38 f.
- ↑ Hans Fischl: Wesen und Werden der Schulreform in Österreich. Wien: Deutscher Verlag für Jugend und Volk 1929, S. 79 ff.
- ↑ Helmut Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs. Band 5. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1988, S. 85.
- ↑ Friedrich Ostwald: Die Bildungsreform in der Ersten Republik – Schulreform 1927/28. In: Geistiges Leben im Österreich der Ersten Republik. Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1986, S. 244.
- ↑ Helmut Gruber: Red Vienna. Experiment in Working-Class Culture 1919-1934. Oxford: Oxford University Press 1991, S. 78-80.
- ↑ Peter Eigner / Andreas Weigl: Karte "Bildungsgrad der Bevölkerung 1870/71-1934/35". In: Historischer Atlas von Wien. 5. Lieferung. Wien: Pichler Verlag 1995.