Irma Karczewska

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Irma Karczewska als junges Mädchen
Daten zur Person
Personenname Karczewska, Irma
Abweichende Namensform Christoduloff, Maria; Haselhoff-Lich, Maria; Loris,Ingrid; Kardinger, Irma
Titel
Geschlecht weiblich
PageID 366096
GND 1293676799
Wikidata
Geburtsdatum 30. Jänner 1890
Geburtsort Wien 4066009-6
Sterbedatum 1. Jänner 1933
Sterbeort Wien 4066009-6
Beruf Schauspielerin
Parteizugehörigkeit
Ereignis
Nachlass/Vorlass
Objektbezug Karl Kraus (Portal)
Quelle
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Recherche
Letzte Änderung am 12.04.2024 durch WIEN1.lanm09kka
Begräbnisdatum
Friedhof
Grabstelle
Bildname IrmaKarczewska.jpg
Bildunterschrift Irma Karczewska als junges Mädchen
  • 4., Schwindgasse 2 (Geburtsadresse)
Familiäre Beziehung
Berufliche Beziehung
Beziehung, Bekanntschaft, Freundschaft

Irma Karczewska, * 30. Jänner 1890 Wien, † 1. Jänner 1933 Wien, Schauspielerin.

Biografie

Irma Karczewska wuchs als Tochter eines Hausmeisters im kleinbürgerlichen Milieu auf. Um 1905 wurde Karl Kraus auf sie aufmerksam, als sie gerade ein vierzehneinhalbjähriges Mädchen war. Als Grund für Kraus' Interesse gibt der Arzt und Psychotherapeut Fritz Wittels in seinen Memoiren an, dass Karczewska der Schauspielerin Annie Kalmar, einer früh verstorbenen Geliebten von Kraus ähnlich gesehen habe. Kraus holte Karczewska aus ihrem Elternhaus und entdeckte sie als Schauspielerin, wie sie selbst festhielt. In der von ihm produzierten Uraufführung der "Büchse der Pandora" von Frank Wedekind, die aufgrund der Zensur am 29. Mai 1905 nur vor geladenem Publikum im Trianon-Theater im Nestroyhof stattfinden konnte, übernahm sie die Rolle des Liftjungen Bob. Dass sie außerdem 1906 im neu gegründeten „Cabaret Nachtlicht“ unter dem Namen Ingrid Loris in der Ballgasse auftrat, ist durch eine lobende Erwähnung durch Kraus in der Ausgabe der "Fackel" vom 12. Mai dokumentiert.

Karczewska und der 16 Jahre ältere Kraus hatten ein intimes Verhältnis. Kraus versuchte ihr zu einer schauspielerischen Karriere zu verhelfen und unterstützte sie finanziell auch über die Dauer der intimen Beziehung hinaus. Als Schauspielerin setzte sie sich nicht durch, doch als libidinöses Kult- und Streitobjekt der Wiener Kulturszene beeinflusste sie in den folgenden Jahren Ideen zu Geschlecht und Sexualität. So begannen auch die Kraus-Freunde Karl Hauer, Erich Mühsam und schließlich Fritz Wittels Verhältnisse mit ihr.

Von Wittels an Karczewska sind acht Briefe aus dem Jahr 1907 überliefert, die die Beziehung aus seiner Sicht dokumentieren. In diesen adressiert er sie als "Irmerl", "Geliebte" sowie "Kümmelschnute" und schwärmt über sie in poetischen Umschreibungen. Seine Vorstellungen von ihr sind zutiefst widersprüchlich - und changieren zwischen "du ewig keusche, jungfräuliche" und "geliebte Hure". Abseits solcher Projektionen werden auch problematische Besitzansprüche und Machtverhältnisse in diesen Schreiben sichtbar. Auch Wittels kam aus einem anderen Milieu und war 10 Jahre älter als Karczewska, die aufgrund ihres Alters und ihrer geringen Körpergröße vom Kreis um Karl Kraus „die Kleine“ genannt wurde. Ob und wie Karczewska auf diese Briefe antwortete, ist nicht überliefert.

In Wittels editierten Memoiren wird noch deutlicher, dass Karczewska für Kraus und ihn selbst lediglich als Projektionsfläche für ihr idealisiertes Frauenbild und als Sex-Objekt interessant war. Er schreibt, dass er sich bereits durch Kraus‘ schwärmende Berichte und Fotos in die jedoch persönlich im Kreis um Kraus kaum auftretende Karzewska verliebt habe: "Dann lernte ich sie kennen. Sie war nichts anderes als ein 17jähriges Mädchen, dümmlich und langweilig, außer in sexueller Hinsicht. In diesem Bereich legte sie eine Raffinesse an den Tag, die angesichts ihrer völligen Interesselosigkeit für alles andere um so erstaunlicher war. Ich erkannte nicht, daß [sic!] dies das Werk Kraus‘ war, das Wunder eines dionysischen Mädchens, das mehrere tausend Jahre zu spät geboren war."

Diese herablassende Beschreibung verdeutlicht einerseits, dass er Kraus zuschreibt, Karczewska 'erschaffen' zu haben und dass ihre Perspektive in dieser Beziehungskonstellation keinen Wert für Wittels und vermutlich auch Kraus hatte. Dass Wittels‘ Bewunderung für Kraus wohl eine große Rolle in diesem Dreiecksverhältnis spielte und Karczewska dabei möglicherweise auch als eine Art Medium für homoerotische Gefühle der beiden Männer diente, zeigt auch sein Kommentar in seinen Memoiren dazu, dass Karczewska ihn verließ, als er sich mit Kraus überwarf.

Wittels entwickelte an Karczewskas Person außerdem seine Vorstellungen um das "Kindweib", in dem sich die ungehemmte Sexualität des polygamen "Urweibs" noch frei entfalte. Einen gleichnamigen Artikel veröffentlichte er 1907 in der "Fackel". Diese männliche Fantasie, die etwa auch Kraus und Wedekind bestärkten, blieb ein einflussreiches und problematisches Erbe der Wiener Moderne, etwa in der Frage des sexuellen Schutzalters von Kindern. Um 1900 galten Vierzehnjährige als gesetzlich mündig und heiratsfähig. Im Nachdenken über die damals vieldiskutierte "sexuelle Frage" standen allerdings auch bei den 'modernen' Denkern die eigenen Interessen und Gesellschaftsvisionen beim Experimentieren mit sexuellen und gesellschaftlichen Freiheiten im Vordergrund und nicht die Vulnerabilität von Kindern und Frauen in einer generationen- und geschlechterhierarchischen Gesellschaft. Karczewskas glamouröse Idealisierung als "Hetäre" einer Wiener Bohème-Clique verbarg - wie bei vielen anderen auch - hochproblematische Ungleichheits- und Abhängigkeitsverhältnisse.

Kraus, der hier zumindest eine gewisse Verantwortung spürte, versuchte für Irma Karczewska weiterhin Engagements (etwa am Thalia-Theater in Berlin) sowie eine bürgerliche Verehelichung als Absicherung zu arrangieren. Um 1908 heiratete sie Albertus (Beppo) Haselhoff von Lich, den Eigentümer einer Schokoladenfabrik in Pottenbrunn. 1912 war die Ehe bereits wieder geschieden. Zwei weitere Ehen mit einem Ingenieur namens Friese (1915) und Georg Christoduloff aus Bulgarien folgten. Zwischen und nach diesen Beziehungen blieb Kraus eine Ansprechperson, der die früh erkrankte und schwer depressive Karczewska auch finanziell weiter unterstützte. An ihn wandte sie sich auch in einem Tagebuch, das aus ihren letzten Jahren - konkret vom 8. Oktober 1930 bis zum 23. September 1932 - datiert. Wenig später – am 1. Jänner 1933 – nahm sie sich das Leben.

Karczewskas Tagebuch

Irma Karczewskas Tagebuch ist eine zentrale Quelle für dunkle und marginalisierte Seiten der gefeierten Wiener Modernen. Es dokumentiert facettenreich die Depressionen, welche sie als Opfer von emotionalen und sexuellen Missbrauch die letzten Jahre ihres Lebens begleiteten. Sie reflektiert darin ihre Kindheit, ihren Lebensweg und die sexualisierte Wahrnehmung ihrer Person, die sie in den direkten Zusammenhang mit Karl Kraus stellt. Dieser wird im Tagebuch als "Hego" adressiert. Karczewska beschreibt sich selbst als ein "weggenommenes Kind", dem Kraus zum Elternersatz wird. Die durch die Zeit gewonnene Distanz ermöglicht es ihr, ihr eigene Perspektive auf die damaligen Ereignisse zu formulieren und den Machmissbrauch durch Kraus und sein Netzwerk wie auch seine Auswirkungen zu beschreiben. Sie gibt etwa an, dass unter dem Einfluss seiner starken Persönlichkeit "alles" für ihn gemacht und auch seine Weltanschauung übernommen habe. Gleichzeitig ist es Kraus' Abwesenheit, welche Karczewska in ihrem Tagebuch als Grund für ihre Einsamkeit, seelische Unzufriedenheit und ihren gesellschaftlichen Ruin angibt. Ihre Familie wird nur selten erwähnt. Sie schreibt über ihre zwei Brüder und den Tod ihrer Eltern, gibt aber wenig Details zu den Personen preis. Ihre psychischen Leiden – etwa nach dem Tod ihrer Mutter – beschreibt sie hingegen detaillierter, wobei auch die für Karczewska traumatisierenden Bedingungen in Nervenheilanstalten zum Thema werden. Sie war 20 Jahre alt als sie das erste Mal in eine Nervenheilanstalt gebracht wurde. Weitere Aufenthalte folgten, Misshandlungen werden angedeutet. In mehreren Einträgen denkt sie über "Genie" und "Muse" in der Wiener Gesellschaft nach: Während Männer sich durch Intellekt Vorteile verschaffen könnten, stünde bei Frauen nur das Äußere im Mittelpunkt. Kraus werde als Mann und "Genie" anerkannt – und seine Amoral ausgeblendet. Das Tagebuch entstand, nachdem Kraus sie als seine Universalerbin abgesetzt hatte. Es reflektiert ihre Situation als abhängige, jedoch nicht mehr begehrte Frau. Zwar unterstützte Kraus sie weiterhin finanziell, doch reicht dies nicht, um ihren Lebensstandard aufrecht zu erhalten und sie spürt seine immer entschiedenere Distanzierung. Ihre Leiden beschreibt sie als psychosomatisch und adressiert Kraus zugleich als Schuldigen und einzige Rettung aus ihrer erschütternden Lage, die sie als schlimmer als den Tod wahrnimmt. Auch von Suizid ist entsprechend die Rede.

Quellen

Literatur

  • Sonja Matter: Das sexuelle Schutzalter. Gewalt, Begehren und das Ende der Kindheit (1950-1990). Göttingen: Wallstein 2022
  • Daniela Strigl: Beziehungen. In: Karl Kraus-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Katharina Prager / Simon Ganahl. Berlin: J.B. Metzler 2022, S. 41–58
  • Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher. Wien: Zsolnay 2020
  • Edward Timms: Das Tagebuch der Irma Karczewska. In: Geist versus Zeitgeist. Karl Kraus in der Ersten Republik. Hg. von Katharina Prager. Wien: Metroverlag / Wienbibliothek im Rathaus 2018, S. 183–187
  • Leo A. Lensing: "Freud and the Child Woman" or "The Kraus Affair"? A Textual „Reconstruction“ of Fritz Wittels’s Psychoanalytic Autobiography. German Quarterly 69, 1996, S. 322–332
  • Edward Timms (Hg.): Freud und das Kindweib: Die Memoiren von Fritz Wittels. Aus d. Engl. übers. von Marie-Therese Pitner. Wien [u. a.]: Böhlau 1996 (Geschichte in der Literatur; 37)
  • Edward Timms: Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. Wien: Deuticke 1995
  • Edward Timms: The "Child-Woman": Kraus, Freud, Wittels, and Irma Karczewska. In: Vienna 1900. From Altenberg to Wittgenstein. Hg. von Edward Timms / Ritchie Edward. Edinburgh 1990, S. 87–107
  • Leo A. Lensing: "Geistige Väter" & "Das Kindweib". Sigmund Freud, Karl Kraus & Irma Karczewska in der Autobiographie von Fritz Wittels. Forum 430/431, 1989, S. 62–71
  • Karl Kraus: „Nachtlicht“, in: Die Fackel, Nr. 203, 12.5.1906, https://fackel.oeaw.ac.at/, S. 17-23.
  • Fritz Wittels(Avicenna): „Das Kindweib“, in: Die Fackel, Nr. 230-231, 15.7.1907, https://fackel.oeaw.ac.at/, S. 14-33.
  • Hilde Schmölzer: Frauen um Karl Kraus, Wien: Kitab-Verlag 2015.
  • Daniela Strigl: „“Frauenverehrer“, „Liebessklave“, „Gott und Teufel“. Zu Karl Kraus‘ erotischer Biographie.“ In: Geist versus Zeitgeist. Karl Kraus in der Ersten Republik. Hg. von Katharina Prager. Wien: Metroverlag / Wienbibliothek im Rathaus 2018, S. 166-181.


Irma Karczewska im Katalog der Wienbibliothek im Rathaus.

Weblinks