Entnazifizierung
Die Entnazifizierung bezeichnete die gesetzlichen Grundlegungen und Maßnahmen, um gegen nationalsozialistisches Gedankengut und AnhängerInnen des Nationalsozialismus beziehungsweise ehemalige Mitglieder der NSDAP vorzugehen. In der österreichischen Nachkriegszeit, die durch die Alliierte Besatzung (1945-1955) gekennzeichnet war, wurde diese von der SPÖ, der ÖVP und der KPÖ sowie den Alliierten Besatzungsmächten – Großbritannien, Frankreich, die USA und die Sowjetunion – getragen.
Heute wird die Entnazifizierung teils als gescheitert oder unvollständig wahrgenommen. Sie gestaltete sich unter anderem deshalb schwierig, weil die Entnazifizierungsgesetze einen großen Teil der Bevölkerung betrafen: 1942 waren rund 540.000 Personen Mitglieder der NSDAP, das stellten ca. 7,5% der EinwohnerInnen Österreichs dar. Da der Ausschluss eines so großen Teils der Bevölkerung von maßgeblichen Rechten nicht möglich schien, wurde die Reintegration von ‘MitläuferInnen‘ als notwendig erachtet.
Phasen der Entnazifizierung
Die Entnazifizierung in der Besatzungszeit kann in folgende Phasen geteilt werden:
- April-Juni 1945: Die Militärische Sicherheitsphase, in der Verhaftungen von NationalsozialistInnen vor allem von der alliierten Besatzung ausgingen.
- Juni 1945-Februar 1946: Die Entnazifizierung erfolgte durch die österreichische Regierung und die Alliierten, was zu Unterschieden in den Besatzungszonen im Vorgehen führte.
- Februar 1946-Februar 1947: Nach der Bewilligung durch den Alliierten Rat am 11. Februar 1946 traten das Verbotsgesetz vom 8. Mai 1945, das Kriegsverbrechergesetz vom 26. Juni 1945 und das Wirtschaftssäuberungsgesetz vom 12. September 1945 in Kraft. Bis Februar 1947 erfolgte Entnazifizierung von österreichischer Seite unter alliierter Kontrolle auf deren Grundlage.
- Februar 1947-Mai 1948: Die Entnazifizierung orientierte sich am Nationalsozialistengesetz vom Februar 1947.
- 1948-1957: Verschiedene Amnestien wurden durchgeführt, darunter die ‘Minderbelastetenamnestie’ 1948, die sich auf etwa 90% aller registrierten NationalsozialistInnen bezog.
Direkt nach Kriegsende war die Entnazifizierung der Alliierten mit einem militärischem Sicherheitsbedürfnis verbunden. Inhaftierungen erfolgten nach schwarzen Listen und Beschlüssen von den Militär- beziehungsweise Hochkommissaren. Nach Einsetzung der Alliierten Kommission führten die Sicherheitsorgane der Alliierten ‘Säuberungen‘ von NationalsozialistInnen in der von ihnen kontrollierten Besatzungszonen durch, allerdings ohne viel Koordinierung unter einander. Die US-amerikanische Besatzung verwendete dabei beispielsweise einen siebenseitigen Fragebogen, den auch die britischen und zum Teil die französischen Alliierten, jedoch nicht die sowjetischen Alliierten benutzten. Die sowjetische Besatzung verließ sich im Gegensatz zu den westlichen Alliierten bereits zu Beginn der Besatzung stärker auf die österreichischen Behörden, so dass von sowjetischer Seite meist keine Einmischung in die Entnazifizierung erfolgte. Ausgenommen war jedoch das sowjetische Vorgehen gegen Personen, die sich etwas gegen die Sowjetunion zu Schulden kommen lassen hatten oder Verschleppungen von für die Sowjetunion interessanten Personen.
Die Entnazifizierung erfolgte auf verschiedenen Ebenen. So waren in Wien beispielsweise der Gemeinderat und Landtag, die Verwaltung und die Polizei von ‘Säuberungen‘ betroffen. Dort wurde etwa das Verhalten von BeamtInnen während der Zeit des Nationalsozialismus unter der Kontrolle der alliierten Besatzungsmächte überprüft und bei der Wiener Polizeidirektion eine eigene Untersuchungskommission eingerichtet. Allerdings wurden in Wien spätestens 1948 alle Personen, die nach dem Verbotsgesetz als ‘Illegalen‘ ohne Parteifunktion beziehungsweise nach dem Nationalsozialistengesetz als ‘Minderbelastete’ eingestuft worden und bereits vor 1938 bei der Gemeinde angestellt gewesen waren, wieder in Wiener Stadtverwaltung angestellt (siehe: Entnazifizierung in der Gemeindeverwaltung).
Wichtig für die Entnazifizierung waren jedoch auch Umerziehungsmaßnahmen, wie beispielsweise die antifaschistische Ausstellung “Niemals vergessen!“ des Kulturamts der Stadt Wien, die bereits 1946 im Wiener Künstlerhaus stattfand.
Gesetzliche Grundlagen der Entnazifizierung
Kurz nach der Konstituierung der provisorischen österreichischen Regierung erließ diese grundlegende Gesetze, welche die Basis der Entnazifizierung darstellen sollten. Dazu zählte das Verfassungsgesetz über Kriegsverbrechen und andere nationalsozialistische Untaten, auch bekannt als Kriegsverbrechergesetz, vom 26. Juni 1945. Dieses stellte Kriegsverbrechen, Kriegshetzerei, Quälereien und Misshandlungen, Verletzungen der Menschlichkeit und der Menschenwürde, Denunziation und Hochverrat an Österreich unter Strafe. Die Zweite Regelung war das Verfassungsgesetz über das Verbot der NSDAP oder Verbotsgesetz vom 8. Mai 1945, das die Rechtsgrundlage für die Registrierung und Behandlung von Mitgliedern der NSDAP charakterisierte und auf Parteiangehörige zutraf, die nicht durch das Kriegsverbrechergesetz verfolgt wurden. Zudem bestand das Wirtschaftssäuberungsgesetz vom 12. September 1945.
Vorerst blieben das Verbotsgesetz und das Kriegsverbrechergesetz jedoch ohne große Wirkungskraft, weil die Regierung unter Karl Renner von den westlichen Besatzungsmächten nicht anerkannt worden war und der Alliierte Rat den Gesetzen nicht zugestimmt hatte. Somit galten diese vorerst nur in Wien und in der sowjetischen Besatzungszone. Dies veränderte sich mit dem 20. Oktober 1945 und der de facto-Anerkennung der Regierung sowie der Genehmigung der Gesetze durch den Alliierten Rat am 10. November 1945. Seitdem wurde die Entnazifizierung von der österreichischen Regierung und österreichischen Behörden unter der Kontrolle der Alliierten Besatzung durchgeführt.
Die Rolle der Volksgerichte
Um diese Gesetze durchzusetzen wurden Volksgerichte als Sondergerichte geschaffen, die sich aus zwei BerufsrichterInnen und drei SchöffInnen zusammensetzten. Gegen deren Urteile war keine Berufung möglich. Mit Ausnahme des Wiener Volksgerichts, das im Gegensatz zu den Gerichten in den westlichen Zonen bereits im August 1945 zu arbeiten begann, erfolgte für die alliierte Besatzung die Einführung der Sondergerichtsbarkeit zu langsam und zu langwierig. Deshalb forderte sie die österreichische Regierung 1946 auf, die Verfahren gegen VerbrecherInnen zu verstärken. Zusätzlich zu den Volksgerichten bestanden überdies Alliierte Gerichte, die sich mit nationalsozialistischen Verbrechen auseinandersetzten.
Die ‘Minderbelastetenamnestie‘
Nachdem sich Österreich für eine zeitliche Befristung der Sühnemaßnahmen für ehemalige NationalsozialistInnen einsetzte, wurde auf Vorschlag der Sowjetunion 1948 eine ‘Minderbelastetenamnestie‘ durchgeführt. Diese betraf 90% aller registrierten Personen und beendete die Entnazifizierung Österreichs als Massenerscheinung. Gleichzeitig erfolgte die Abnahme der Intensität der strafrechtlichen Verfolgung von NS-TäterInnen, rund 80% der Verfahren von Volksgerichten hatten zu dieser Zeit bereits zuvor begonnen. Ein Grund für den Rückgang der Ermittlungstätigkeit stellte die Veränderung des gesellschaftlichen Klimas in Österreich durch den beginnenden Kalten Krieg dar, durch den die Alliierten andere Prioritäten setzten.
Das Ende der Besatzungszeit und seine Auswirkung auf die Entnazifizierung
Die Volksgerichte wurden 1955 nach dem Abschluss des Österreichischen Staatsvertrags und dem Abzug der Besatzung durch das Verfassungsgesetz vom 20. Dezember 1955 aufgehoben und die Verfolgung von NS-Verbrechen an Geschworenengerichte übertragen. Dem vorausgehende Initiativen der Großen Koalition von SPÖ und ÖVP nach der Wahl von 1945, die Volksgerichte aufzulösen, wurden vom Alliierten Rat verhindert. In Folge kam es zu Fehlurteilen und teils zu Aufhebungen der Urteile wegen Rechtsirrtums der Geschworenen. 1957 beschloss das österreichische Parlament eine erneute NS-Amnestie, wodurch Verfahren eingestellt wurden und sich eine verstärkte Tendenz zur Bagatellisierung der NS-Verbrechen äußerte. Die Volksgerichte hatten während der Alliierten Besatzung 13.607 Schuldsprüche gefällt, in den zwanzig darauf folgenden Jahren erfolgten bei insgesamt 39 Urteilen 18 Schuldsprüche. Somit ereignete sich die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen in Österreich hauptsächlich in der Zeit 1945-1955 durch die Volksgerichte. Die Verfolgung von NS-Verbrechen während der alliierten Besatzung bleibt damit von besonderer Bedeutung.
Siehe auch:
- Ministerkomitee zur Entnazifizierung der leitenden Stellen des öffentlichen Dienstes
- Alliiertes Entnazifizierungsbüro
- Internierungslager der Staatspolizei für ehemalige NationalsozialstInnen in Wien
Quellen
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 119, A42: NS-Registrierung 1945-1957
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, Volksgericht, A1: Vg-Vr Strafakten 1945-1955
Literatur
- Siegfried Beer: Britische Zonenpolitik. In: “Österreich ist frei!“ Der Österreichische Staatsvertrag 1955. Beitragsband zur Ausstellung auf Schloss Schallaburg 2005. Hg. von Stefan Karner, Gottfried Stangler. Wien: Verlag Berger 2005, S. 77-81, hier: 80 f.
- Klaus Eisterer: Österreich unter Alliierter Besatzung 1945-1955. In: Österreich im 20. Jahrhundert. Ein Studienbuch in zwei Bänden. Band 2: Vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Hg. von Rolf Steininger, Michael Gehler. Wien / Köln / Weimar: Böhlau Verlag 1997, S. 147-216, hier: 169 ff., 175 f.
- Karl Fischer: Die Vier im Jeep. Die Besatzungszeit in Wien 1945-1955, Wien: Wiener Stadt- und Landesarchiv 1985 (Wiener Geschichtsblätter, Beiheft 1/1985), S. 10.
- Winfried R. Garscha / Claudia Kuretsidis-Haider: Die Verfahren vor dem Volksgericht Wien (1945-1955) als Geschichtsquelle. Projektbeschreibung. Wien: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes 1993, S. 30, 99.
- Sonja Niederacher: Die Entwicklung der Entnazifizierungsgesetzgebung. In: Entnazifizierung zwischen politischem Anspruch, Parteienkonkurrenz und Kaltem Krieg. Das Beispiel der SPÖ. Hg. von Maria Mesner. Wien / München: Oldenbourg Verlag 2005, S. 13-36, hier: 13 f., 16 f.
- Walter Schuster, Wolfgang Weber: Entnazifizierung im regionalen Vergleich: Der Versuch einer Bilanz. In: Entnazifizierung im regionalen Vergleich. Hg. von Walter Schuster, Wolfgang Weber. Linz: Archiv der Stadt Linz 2004, S. 15-41, hier: 34.
- Roland Pichler: Volksgerichtsbarkeit und Entnazifizierung - unter besonderer Berücksichtigung der Verfahren gegen Frauen vor dem Volksgericht Wien. Dissertation. Universität Wien. Wien, 2016 (PDF, othes.univie.ac.at; 8 MB).
- Brigitte Rigele: Entnazifizierung beim Magistrat der Stadt Wien. In: Entnazifizierung im regionalen Vergleich. Hg. von Walter Schuster, Wolfgang Weber. Linz: Archiv der Stadt Linz 2004, S. 323-335.
- Engelbert Steinwender: Von der Stadtguardia zur Sicherheitswache. Wiener Polizeiwachen und ihre Zeit. Band 2: Ständestaat, Großdeutsches Reich, Besatzungszeit. Graz: Weishaupt Verlag 1992, S. 296.
- Dieter Stiefel: Forschungen zur Entnazifizierung in Österreich: Leistungen, Defizite, Perspektiven. In: Entnazifizierung im regionalen Vergleich. Hg. von Walter Schuster, Wolfgang Weber. Linz: Archiv der Stadt Linz 2004, S. 43-57, hier: 44 f.
- Dieter Stiefel: Nazifizierung plus Entnazifizierung = Null? Bemerkungen zur besonderen Problematik der Entnazifizierung in Österreich. In: Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945-1955. Symposium des Instituts für Wissenschaft und Kunst. Hg. von Sebastian Meissl, Klaus-Dieter Mulley, Oliver Rathkolb. Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1986, S. 28-36, hier: 31 ff.