Otto Glöckel: Unterschied zwischen den Versionen

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Otto Glöckel kam im Schulhaus von Pottendorf als Sohn des Unterlehrers Friedrich und dessen Gattin Fanni zur Welt. Nach Absolvierung der Volks- und Bürgerschule studierte er am Landeslehrerseminar in Wiener Neustadt (Matura 1892) und wurde dann über Vermittlung [[Engelbert Pernerstorfer]]s provisorischer Unterlehrer in Wien, wo er anfangs in Volksschulen des 14. Bezirks unterrichtete.  
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Otto Glöckel kam im Schulhaus von Pottendorf als Sohn des Unterlehrers Friedrich und dessen Gattin Fanni zur Welt. Nach Absolvierung der Volks- und Bürgerschule studierte er am Landeslehrerseminar in Wiener Neustadt (Matura 1892) und wurde dann über Vermittlung [[Engelbert Pernerstorfer]]s provisorischer Unterlehrer in Wien. Hier unterrichtete er anfangs in Volksschulen des 14. Bezirks.  
  
1894 trat er als junger Lehrer der sozialdemokratischen Partei bei und gründete zusammen mit [[Karl Seitz]] die Wiener Lehrerbewegung "Die Jungen". Als er sich mit Gesinnungsgenossen in den 90er Jahren gegen die Diskriminierung der Unterlehrer zur Wehr setzte, wurde er, zusammen mit vier Kollegen, am 15. September 1897, von [[Karl Lueger]] wegen "politischen Radikalismus" fristlos entlassen. Er fand als Beamter in der Unfallkrankenkasse Beschäftigung.  
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1894 trat er als junger Lehrer der sozialdemokratischen Partei bei und gründete zusammen mit [[Karl Seitz]] die Wiener Lehrerbewegung "Die Jungen". Als er sich mit Gesinnungsgenossen in den 90er Jahren gegen die Diskriminierung der Unterlehrer zur Wehr setzte, wurde er, zusammen mit vier Kollegen, am 15. September 1897 von [[Karl Lueger]] wegen "politischen Radikalismus" fristlos entlassen. Er fand als Beamter in der Unfallkrankenkasse Beschäftigung.  
  
Glöckel arbeitete am "Schulprogramnm der Jungen" (1898) mit. 1905 wurde der antiklerikale, von Glöckel geleitete Verein "Freie Schule" gegründet, in dem sich Sozialdemokraten und Liberale zusammenfanden. 1906 wurde er in den Wiener Gemeinderat gewählt, 1907 in den Reichsrat; diesem beziehungsweise dem Nationalrat der Republik gehörte er bis 1934 an. In der [[Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP)|Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei]] fungierte Glöckel als ständiger Referent für Schulfragen. Während des [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkriegs]], am 7. Jänner 1917, legte er in einer Versammlung des Vereins "Freie Schule" im Großen Konzerthaussaal unter dem Titel "Das Tor der Zukunft" ein Schul- und Erziehungsreformprogramm vor, in dem er die Freiheit der Schule, die Trennung von Kirche und Schule, die Einheitsschule, die Förderung aller Begabungen, die Unentgeltlichkeit des Unterrichts und der Lernmittel, eine zeitgemäße Gestaltung der Methodik im Sinne einer kindgemäßen Lebens- und Arbeitsschule und die Überwindung der Bürokratie im Schulwesen forderte.  
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Glöckel arbeitete am "Schulprogramnm der Jungen" (1898) mit. 1905 wurde der antiklerikale, von Glöckel geleitete Verein "Freie Schule" gegründet, in dem sich Sozialdemokraten und Liberale zusammenfanden. 1906 wurde er in den Wiener Gemeinderat gewählt, 1907 in den Reichsrat; diesem beziehungsweise dem Nationalrat der Republik gehörte er bis 1934 an. In der [[Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP)|Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei]] fungierte Glöckel als ständiger Referent für Schulfragen. Während des [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkriegs]], am 7. Jänner 1917, legte er in einer Versammlung des Vereins "Freie Schule" im Großen Konzerthaussaal unter dem Titel "Das Tor der Zukunft" ein Schul- und Erziehungsreformprogramm vor, in dem er die Freiheit der Schule, die Trennung von Kirche und Schule und die Einheitsschule forderte. Außerdem setzte er sich für die Förderung aller Begabungen, die Unentgeltlichkeit des Unterrichts und der Lernmittel, eine zeitgemäße Gestaltung der Methodik im Sinne einer kindgemäßen Lebens- und Arbeitsschule und die Überwindung der Bürokratie im Schulwesen ein.  
  
1918 wurde Glöckel Mitglied des neu eingesetzten Staatsrats und am 6. Jänner 1918 Unterstaatssekretär für Inneres; in dieser Funktion war er vor allem für die Durchführung der ersten Nationalratswahlen verantwortlich. Von 15. März 1919 bis 24. Oktober 1920 leitete Glöckel als Unterstaatssekretär für Unterricht in der Koalitionsregierung Renner-Fink die oberste Schulbehörde Österreichs. In dieser Funktion trieb er die Schulreform voran und schaffte die vorgeschriebene Teilnahme am Religionsunterricht ab. Die Einführung einer neuen "Allgemeinen Mittelschule" wurde zwar vorbereitet, konnte aber von ihm nicht mehr abgeschlossen werden. Nach dem Bruch der Koalition mit den Christlichsozialen wurde Glöckel ab 28. März 1922 Geschäftsführender Präsident des Wiener Stadtschulrats und verwirklichte auf Wiener Boden viele Punkte seines Schulreform-Programms. Jährlich wurde er in diesem Amt bestätigt.   
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1918 wurde Glöckel Mitglied des neu eingesetzten Staatsrats und am 6. Jänner 1918 Unterstaatssekretär für Inneres; in dieser Funktion war er vor allem für die Durchführung der ersten Nationalratswahlen verantwortlich. Von 15. März 1919 bis 24. Oktober 1920 leitete Glöckel als Unterstaatssekretär für Unterricht in der Koalitionsregierung Renner-Fink die oberste Schulbehörde Österreichs. In dieser Funktion trieb er die Schulreform voran und schaffte die vorgeschriebene Teilnahme am Religionsunterricht ab. Die Einführung einer neuen "Allgemeinen Mittelschule" wurde zwar vorbereitet, konnte aber von ihm nicht mehr abgeschlossen werden. Nach dem Bruch der Koalition mit den Christlichsozialen wurde Glöckel ab 28. März 1922 Geschäftsführender Präsident des Wiener Stadtschulrats und verwirklichte viele Punkte seines Schulreform-Programms. Jährlich wurde er in diesem Amt bestätigt.   
  
Der [[Stadtschulrat für Wien|Stadtschulrat]] entwickelte sich unter Glöckels Leitung zum Zentrum der pädagogischen und organisatorischen Neugestaltung des gesamten Wiener Pflicht-, Mittel- und Fortbildungsschulwesens. Wien blieb dem Primat der engagierten Schulpolitik auch treu, als die Bundesregierung nach der "Genfer Sanierung" das Bildungsbudget der Bundesländer zusammenstrich. Die Stadt übernahm größtenteils die Finanzierung und sorgte für eine adäquate Entlohnung der Lehrerschaft, weiterhin für eine Limitierung der Klassenschülerhöchstzahlen (29 Schüler und Schülerinnen), für Gratisschulbücher, für moderne Schulbüchereien, für unentgeltliche beziehsungsweise billige Essensmöglichkeiten und für die demokratische Beteiligung von Elternvertretungen.  
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Der [[Stadtschulrat für Wien|Stadtschulrat]] entwickelte sich unter Glöckels Leitung zum Zentrum der pädagogischen und organisatorischen Neugestaltung des gesamten Wiener Pflicht-, Mittel- und Fortbildungsschulwesens. Wien blieb dem Primat der engagierten Schulpolitik auch treu, als die Bundesregierung nach der "Genfer Sanierung" das Bildungsbudget der Bundesländer zusammenstrich. Die Stadt übernahm größtenteils die Finanzierung und sorgte für eine adäquate Entlohnung der Lehrerschaft. Weiterhin ermöglichte sie die Limitierung der Klassenschülerhöchstzahlen (29 Schüler und Schülerinnen), Gratisschulbücher, moderne Schulbüchereien, unentgeltliche beziehsungsweise billige Essensmöglichkeiten und die demokratische Beteiligung von Elternvertretungen.  
  
Durch die Zusammenarbeit mit der Universität, konkret mit dem Psychologischen Institut von [[Karl Bühler]] und [[Charlotte Bühler]], entstand abseits von Drill und moralischer Erbauung eine neue Lernkultur. Die sogenannte "Arbeitsschule" sollte anschaulich, lebensnah und spielerisch Lesen, Schreiben und Rechnen vermitteln sowie den alten Frontalunterricht ablösen. Das 1922 gegründete [[Pädagogisches Institut der Stadt Wien|Pädagogische Institut der Stadt Wien]] sorgte dafür, dass das Lehrpersonal in der Aus- und Fortbildung auf die neue Schule vorbereitet wurde. Die hochschulmäßige Ausbildung der Volksschullehrer wurde dort erprobt.  
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Durch die Zusammenarbeit mit der Universität, konkret mit dem Psychologischen Institut von [[Karl Bühler]] und [[Charlotte Bühler]], entstand abseits von Drill und moralischer Erbauung eine neue Lernkultur. Die sogenannte "Arbeitsschule" sollte anschaulich, lebensnah und spielerisch Lesen, Schreiben und Rechnen vermitteln sowie den alten Frontalunterricht ablösen. Das 1922 gegründete [[Pädagogisches Institut der Stadt Wien|Pädagogische Institut der Stadt Wien]] sorgte dafür, dass das Lehrpersonal in der Aus- und Fortbildung auf die neue Schule vorbereitet wurde. In diesem Rahmen wurde auch die hochschulmäßige Ausbildung der Volksschullehrer erprobt.  
  
 
Die "[[Wiener Schulreform]]" bewirkte eine verstärkte schulpolitische und pädagogische Diskussion innerhalb der Lehrerschaft und der Öffentlichkeit: Es gab pädagogische Konferenzen, Lehrerarbeitsgemeinschaften (die sich auch bei der Herausgabe von Bezirksheimatkunden engagierten) und Unterrichtsvorführungen. Die "Wiener Schulreform" verhalf Wien mit ihrem modellhaften Charakter zu internationaler Anerkennung; Wien wurde zur "Hauptstadt des Kindes", zum "Mekka der Pädagogik", zum internationalen Zentrum der Schulreform. Expertengruppen aus aller Welt reisten an, die Wiener Schulreform wurde damals zum gepriesenen Vorbild. Glöckels bildungspolitischer Kontrahent war [[Richard Meister]].
 
Die "[[Wiener Schulreform]]" bewirkte eine verstärkte schulpolitische und pädagogische Diskussion innerhalb der Lehrerschaft und der Öffentlichkeit: Es gab pädagogische Konferenzen, Lehrerarbeitsgemeinschaften (die sich auch bei der Herausgabe von Bezirksheimatkunden engagierten) und Unterrichtsvorführungen. Die "Wiener Schulreform" verhalf Wien mit ihrem modellhaften Charakter zu internationaler Anerkennung; Wien wurde zur "Hauptstadt des Kindes", zum "Mekka der Pädagogik", zum internationalen Zentrum der Schulreform. Expertengruppen aus aller Welt reisten an, die Wiener Schulreform wurde damals zum gepriesenen Vorbild. Glöckels bildungspolitischer Kontrahent war [[Richard Meister]].
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Die Wiener Schulreform wurde gehasst und bekämpft. Otto Glöckel sah sich bereits 1923 veranlasst, den Vorwürfen entgegenzutreten. In einer kleinen Schrift mit dem Titel "Die österreichische Schulreform" betonte er zunächst den Grundsatz, dass die neue Schule die Kinder zu "tüchtigen, aufrechten, sittlich gefestigten, arbeitsfreudigen Tatmenschen" erziehen wolle, um sich dann in Folge mit den Kampagnen gegen die Schulreform auseinanderzusetzen. Die Vorwürfe waren zahlreich: mangelnde Disziplin, fehlende Vermittlung von Sprach- und Rechenkenntnissen, Verführung durch sexuelle Aufklärung, politische Indoktrinierung zu Sozialdemokraten.  
 
Die Wiener Schulreform wurde gehasst und bekämpft. Otto Glöckel sah sich bereits 1923 veranlasst, den Vorwürfen entgegenzutreten. In einer kleinen Schrift mit dem Titel "Die österreichische Schulreform" betonte er zunächst den Grundsatz, dass die neue Schule die Kinder zu "tüchtigen, aufrechten, sittlich gefestigten, arbeitsfreudigen Tatmenschen" erziehen wolle, um sich dann in Folge mit den Kampagnen gegen die Schulreform auseinanderzusetzen. Die Vorwürfe waren zahlreich: mangelnde Disziplin, fehlende Vermittlung von Sprach- und Rechenkenntnissen, Verführung durch sexuelle Aufklärung, politische Indoktrinierung zu Sozialdemokraten.  
  
Der "heiße rhetorische Atem" dieser Schrift verriet etwas über die grassierende Kulturkampfstimmung der Zeit. Ein Thema regte zwar auf, aber war keineswegs die causa prima: Otto Glöckel wollte die Einheitsschule von 6. bis zum 14. Lebensjahr, mit innerer Differenzierung. Der Aufreger schlechthin, der Demonstrationen und Gegendemonstrationen der Schulreform-Bewegung auslöste, war die Frage: Wie hält es die neue Schule mit der Religion? Glöckel wollte die Trennung von Kirche und Staat, was den regierenden politischen Katholizismus provozierte. In der Tradition des Liberalismus fanden es die Wiener Schulreformer mit der demokratisch-republikanischen Schule unvereinbar, dass der tägliche Unterricht mit dem Schulgebet begann und endete. Der Besuch des Religionsunterrichts sollte freiwillig sein. Die Reaktion ließ sich nicht auf sich warten: "Herr Glöckel, sagen Sie ihren jüdischen Auftraggebern, daß wir uns unseren Herrgott nicht nehmen lassen", verkündete eine Karikatur in den [[Wiener Stimmen|"Wiener Stimmen"]] am 15. Februar 1921. Nichts löste im Wien der Zwischenkriegszeit mehr Erregung aus als der Streit um die Schule.  
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Der "heiße rhetorische Atem" dieser Schrift verriet etwas über die grassierende Kulturkampfstimmung der Zeit. Ein Thema sorgte zwar für Aufruhr, war aber keineswegs die causa prima: Otto Glöckel wollte die Einheitsschule von 6. bis zum 14. Lebensjahr, mit innerer Differenzierung. Demonstrationen und Gegendemonstrationen der Schulreform-Bewegung löste hingegen die Frage aus: Wie hält es die neue Schule mit der Religion? Glöckel wollte die Trennung von Kirche und Staat, was den regierenden politischen Katholizismus provozierte. In der Tradition des Liberalismus fanden es die Wiener Schulreformer mit der demokratisch-republikanischen Schule unvereinbar, dass der tägliche Unterricht mit dem Schulgebet begann und endete. Der Besuch des Religionsunterrichts sollte freiwillig sein. Die Reaktion ließ sich nicht auf sich warten: "Herr Glöckel, sagen Sie ihren jüdischen Auftraggebern, daß wir uns unseren Herrgott nicht nehmen lassen", verkündete eine Karikatur in den [[Wiener Stimmen|"Wiener Stimmen"]] am 15. Februar 1921. Nichts löste im Wien der Zwischenkriegszeit mehr Erregung aus als der Streit um die Schule.  
  
Am 13. Februar 1934 wurde Glöckel in seinem Arbeitszimmer verhaftet, zunächst in Einzelhaft genommen und dann im Konzentrationslager Wöllersdorf festgehalten. Nach internationalen Petitionen wurde er am 29. Oktober 1934 freigelassen. Gesundheitlich schwer gezeichnet, starb er wenige Monate später. Das Begräbnis wurde zu einer politischen Demonstration.  
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Am 13. Februar 1934 wurde Glöckel in seinem Arbeitszimmer verhaftet, zunächst in Einzelhaft genommen und dann im Konzentrationslager Wöllersdorf festgehalten. Nach internationalen Petitionen ließ man ihn am 29. Oktober 1934 frei. Gesundheitlich schwer gezeichnet, starb er wenige Monate später. Das Begräbnis wurde zu einer politischen Demonstration.  
  
 
Otto Glöckel war mit [[Leopoldine Glöckel|Leopoldine Pfaffinger]] verheiratet. Beide wohnten am Gaudenzdorfer Gürtel 47 im 12. Bezirk.  
 
Otto Glöckel war mit [[Leopoldine Glöckel|Leopoldine Pfaffinger]] verheiratet. Beide wohnten am Gaudenzdorfer Gürtel 47 im 12. Bezirk.  

Version vom 23. Februar 2018, 15:25 Uhr

Otto Glöckel
Daten zur Person
Personenname Glöckel, Otto
Abweichende Namensform
Titel
Geschlecht männlich
PageID 24006
GND
Wikidata
Geburtsdatum 8. Februar 1874
Geburtsort Pottendorf, Niederösterreich
Sterbedatum 23. Juli 1935
Sterbeort Wien
Beruf Politiker, Pädagoge
Parteizugehörigkeit Sozialdemokratische Arbeiterpartei
Ereignis
Nachlass/Vorlass
Objektbezug
Quelle Felix Czeike: Historisches Lexikon Wien, Gedenktage
Export RDF-Export (Resource Description Framework) RDF
Recherche
Letzte Änderung am 23.02.2018 durch DYN.rabus
Begräbnisdatum
Friedhof Friedhof Meidling;
Grabstelle
Bildname Ottoglöckel.jpg
Bildunterschrift Otto Glöckel
  • 12., Gaudenzdorfer Gürtel 47 (Sterbeadresse)
Familiäre Beziehung
Berufliche Beziehung
Beziehung, Bekanntschaft, Freundschaft

  • Mitglied der Provisorischen Nationalversammlung (21.10.1918 bis 16.02.1919)
  • Mitglied der Konstituierenden Nationalversammlung (04.03.1919 bis 09.11.1920)
  • Abgeordneter zum Nationalrat (10.11.1920 bis 17.02.1934)
  • Unterstaatssekretär im Staatsamt des Innern (05.11.1918 bis 15.03.1919)
  • Unterstaatssekretär für Unterricht (15.03.1919 bis 22.10.1920)
  • Geschäftsführender Präsident des Wiener Stadtschulrats (1922)

Otto Glöckel, * 8. Februar 1874 Pottendorf, Niederösterreich, † 23. Juli 1935 Wien, Politiker, Pädagoge.

Biographie

Otto Glöckel kam im Schulhaus von Pottendorf als Sohn des Unterlehrers Friedrich und dessen Gattin Fanni zur Welt. Nach Absolvierung der Volks- und Bürgerschule studierte er am Landeslehrerseminar in Wiener Neustadt (Matura 1892) und wurde dann über Vermittlung Engelbert Pernerstorfers provisorischer Unterlehrer in Wien. Hier unterrichtete er anfangs in Volksschulen des 14. Bezirks.

1894 trat er als junger Lehrer der sozialdemokratischen Partei bei und gründete zusammen mit Karl Seitz die Wiener Lehrerbewegung "Die Jungen". Als er sich mit Gesinnungsgenossen in den 90er Jahren gegen die Diskriminierung der Unterlehrer zur Wehr setzte, wurde er, zusammen mit vier Kollegen, am 15. September 1897 von Karl Lueger wegen "politischen Radikalismus" fristlos entlassen. Er fand als Beamter in der Unfallkrankenkasse Beschäftigung.

Glöckel arbeitete am "Schulprogramnm der Jungen" (1898) mit. 1905 wurde der antiklerikale, von Glöckel geleitete Verein "Freie Schule" gegründet, in dem sich Sozialdemokraten und Liberale zusammenfanden. 1906 wurde er in den Wiener Gemeinderat gewählt, 1907 in den Reichsrat; diesem beziehungsweise dem Nationalrat der Republik gehörte er bis 1934 an. In der Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei fungierte Glöckel als ständiger Referent für Schulfragen. Während des Ersten Weltkriegs, am 7. Jänner 1917, legte er in einer Versammlung des Vereins "Freie Schule" im Großen Konzerthaussaal unter dem Titel "Das Tor der Zukunft" ein Schul- und Erziehungsreformprogramm vor, in dem er die Freiheit der Schule, die Trennung von Kirche und Schule und die Einheitsschule forderte. Außerdem setzte er sich für die Förderung aller Begabungen, die Unentgeltlichkeit des Unterrichts und der Lernmittel, eine zeitgemäße Gestaltung der Methodik im Sinne einer kindgemäßen Lebens- und Arbeitsschule und die Überwindung der Bürokratie im Schulwesen ein.

1918 wurde Glöckel Mitglied des neu eingesetzten Staatsrats und am 6. Jänner 1918 Unterstaatssekretär für Inneres; in dieser Funktion war er vor allem für die Durchführung der ersten Nationalratswahlen verantwortlich. Von 15. März 1919 bis 24. Oktober 1920 leitete Glöckel als Unterstaatssekretär für Unterricht in der Koalitionsregierung Renner-Fink die oberste Schulbehörde Österreichs. In dieser Funktion trieb er die Schulreform voran und schaffte die vorgeschriebene Teilnahme am Religionsunterricht ab. Die Einführung einer neuen "Allgemeinen Mittelschule" wurde zwar vorbereitet, konnte aber von ihm nicht mehr abgeschlossen werden. Nach dem Bruch der Koalition mit den Christlichsozialen wurde Glöckel ab 28. März 1922 Geschäftsführender Präsident des Wiener Stadtschulrats und verwirklichte viele Punkte seines Schulreform-Programms. Jährlich wurde er in diesem Amt bestätigt.

Der Stadtschulrat entwickelte sich unter Glöckels Leitung zum Zentrum der pädagogischen und organisatorischen Neugestaltung des gesamten Wiener Pflicht-, Mittel- und Fortbildungsschulwesens. Wien blieb dem Primat der engagierten Schulpolitik auch treu, als die Bundesregierung nach der "Genfer Sanierung" das Bildungsbudget der Bundesländer zusammenstrich. Die Stadt übernahm größtenteils die Finanzierung und sorgte für eine adäquate Entlohnung der Lehrerschaft. Weiterhin ermöglichte sie die Limitierung der Klassenschülerhöchstzahlen (29 Schüler und Schülerinnen), Gratisschulbücher, moderne Schulbüchereien, unentgeltliche beziehsungsweise billige Essensmöglichkeiten und die demokratische Beteiligung von Elternvertretungen.

Durch die Zusammenarbeit mit der Universität, konkret mit dem Psychologischen Institut von Karl Bühler und Charlotte Bühler, entstand abseits von Drill und moralischer Erbauung eine neue Lernkultur. Die sogenannte "Arbeitsschule" sollte anschaulich, lebensnah und spielerisch Lesen, Schreiben und Rechnen vermitteln sowie den alten Frontalunterricht ablösen. Das 1922 gegründete Pädagogische Institut der Stadt Wien sorgte dafür, dass das Lehrpersonal in der Aus- und Fortbildung auf die neue Schule vorbereitet wurde. In diesem Rahmen wurde auch die hochschulmäßige Ausbildung der Volksschullehrer erprobt.

Die "Wiener Schulreform" bewirkte eine verstärkte schulpolitische und pädagogische Diskussion innerhalb der Lehrerschaft und der Öffentlichkeit: Es gab pädagogische Konferenzen, Lehrerarbeitsgemeinschaften (die sich auch bei der Herausgabe von Bezirksheimatkunden engagierten) und Unterrichtsvorführungen. Die "Wiener Schulreform" verhalf Wien mit ihrem modellhaften Charakter zu internationaler Anerkennung; Wien wurde zur "Hauptstadt des Kindes", zum "Mekka der Pädagogik", zum internationalen Zentrum der Schulreform. Expertengruppen aus aller Welt reisten an, die Wiener Schulreform wurde damals zum gepriesenen Vorbild. Glöckels bildungspolitischer Kontrahent war Richard Meister.

Das oberste Ziel der Reform war die Schaffung einer einheitliche Organisation des gesamten Bildungswesens in den Stufen der Grundschule (bis zum 10. Lebensjahr), der Allgemeinen Mittelschule (bis zum 14. Lebensjahr) und der allgemeinbildenden Oberschulen. 1927 wurde im Haupt- und Mittelschulgesetz mit der christlichsozial dominierten Bundesregierung ein inhaltlicher und organisatorischer Kompromiss erzielt (definitiver Volksschullehrplan, Einführung der Hauptschule, Kompetenzregelung zwischen Bund und Ländern).

Die Wiener Schulreform wurde gehasst und bekämpft. Otto Glöckel sah sich bereits 1923 veranlasst, den Vorwürfen entgegenzutreten. In einer kleinen Schrift mit dem Titel "Die österreichische Schulreform" betonte er zunächst den Grundsatz, dass die neue Schule die Kinder zu "tüchtigen, aufrechten, sittlich gefestigten, arbeitsfreudigen Tatmenschen" erziehen wolle, um sich dann in Folge mit den Kampagnen gegen die Schulreform auseinanderzusetzen. Die Vorwürfe waren zahlreich: mangelnde Disziplin, fehlende Vermittlung von Sprach- und Rechenkenntnissen, Verführung durch sexuelle Aufklärung, politische Indoktrinierung zu Sozialdemokraten.

Der "heiße rhetorische Atem" dieser Schrift verriet etwas über die grassierende Kulturkampfstimmung der Zeit. Ein Thema sorgte zwar für Aufruhr, war aber keineswegs die causa prima: Otto Glöckel wollte die Einheitsschule von 6. bis zum 14. Lebensjahr, mit innerer Differenzierung. Demonstrationen und Gegendemonstrationen der Schulreform-Bewegung löste hingegen die Frage aus: Wie hält es die neue Schule mit der Religion? Glöckel wollte die Trennung von Kirche und Staat, was den regierenden politischen Katholizismus provozierte. In der Tradition des Liberalismus fanden es die Wiener Schulreformer mit der demokratisch-republikanischen Schule unvereinbar, dass der tägliche Unterricht mit dem Schulgebet begann und endete. Der Besuch des Religionsunterrichts sollte freiwillig sein. Die Reaktion ließ sich nicht auf sich warten: "Herr Glöckel, sagen Sie ihren jüdischen Auftraggebern, daß wir uns unseren Herrgott nicht nehmen lassen", verkündete eine Karikatur in den "Wiener Stimmen" am 15. Februar 1921. Nichts löste im Wien der Zwischenkriegszeit mehr Erregung aus als der Streit um die Schule.

Am 13. Februar 1934 wurde Glöckel in seinem Arbeitszimmer verhaftet, zunächst in Einzelhaft genommen und dann im Konzentrationslager Wöllersdorf festgehalten. Nach internationalen Petitionen ließ man ihn am 29. Oktober 1934 frei. Gesundheitlich schwer gezeichnet, starb er wenige Monate später. Das Begräbnis wurde zu einer politischen Demonstration.

Otto Glöckel war mit Leopoldine Pfaffinger verheiratet. Beide wohnten am Gaudenzdorfer Gürtel 47 im 12. Bezirk.

Zu Glöckels Werken zählen unter anderem "Die österreichische Schulreform" (1922), "Die Wirksamkeit des Stadtschulrates" (1925) und "Drillschule, Lernschule, Arbeitsschule" (1928). Anlässlich des 100. Geburtstags von Glöckel beschloss der Gemeinderat am 22. Februar 1974 die Stiftung einer bronzenen Otto-Glöckel-Medaille, die an Personen verliehen wird, die außerordentliche Leistungen auf dem Gebiet der Pädagogik vollbringen. Aus Anlass des 50. Todestags wurde im Juni 1985 das erste "Glöckel-Symposion" abgehalten ("Die Schulreform geht weiter").

Nach dem Pädagogen wurde die Otto-Glöckel-Schule im 13. Bezirk benannt. Gedenktafeln befinden sich am Stadtschulratsgebäude (1, Dr.-Karl-Renner-Ring 1, Ringstraßenfront, mit Bronzerelief von Erich Pieler, 1954) und am Haus 9, Türkenstraße 3.

Literatur

  • Karl Josef Westritschnig: Bildungspolitische Kontrahenten: Otto Glöckel und Richard Meister. München 2012
  • Willi Urbanek [Hg.]: Auf der Spurensuche nach Otto Glöckel. Zur Bildungsrevolution Otto Glöckels. Wien: Pädagogische Akademie des Bundes in Wien 2006
  • Gerald Mackenthun: Otto Glöckel − Organisator der Wiener Schulreform. In: Gestalten um Alfred Adler. Pioniere der Indvidualpsychologie. Hrsg. von Alfred Levy und Gerald Mackenthun. Würzburg: Könighausen & Neumann 2002, S. 99-118
  • Isabella Ackerl / Friedrich Weissensteiner: Österreichisches Personenlexikon der Ersten und Zweiten Republik. Wien: Ueberreuter 1992
  • Meidling. Blätter des Bezirksmuseums. Wien: Verein zur Erhaltung und Förderung des Meidlinger Heimatmuseums 1989, Heft 23/24, S. 74 f.
  • Hans Matzenauer [Hg.]: Die Schulreform geht weiter. Vorträge und Diskussionen anläßlich des Symposions zum 50. Todestag von Otto Glöckel. Wien [u.a.]: Jugend und Volk 1985
  • Wien aktuell 1985, Heft 4, S. XXXVI
  • Oskar Achs [Hg.]: Schule damals − Schule heute. Otto Glöckel und die Schulreform [Ausstellungskatalog]. Wien [u.a.]: Jugend und Volk 1985
  • Otto Glöckel: Ausgewählte Schriften und Reden. Hg. von Oskar Achs. Wien: Jugend und Volk 1985
  • Otto Glöckel − Mythos und Wirklichkeit. Schulreformen. Wien: Jugend & Volk 1985 (=Schulhefte 35)
  • Alfred Magaziner: Die Wegbereiter. Aus der Geschichte der Arbeiterbewegung. Wien: Volksbuchverlag 1975, S. 144 f.
  • Heribert Sturm: Biographisches Lexikon zur Geschichte der böhmischen Länder. München: Oldenbourg 1974−lfd.
  • Wien aktuell 1974, Heft 6, S. 31 f.
  • Oskar Achs / Albert Krassnigg: Drillschule, Lernschule, Arbeitsschule. Otto Glöckel und die österreichische Schulreform in der Ersten Republik. Wien [u.a.]: Jugend und Volk 1974
  • Hermann Schnell [Hg.]: 50 Jahre Stadtschulrat für Wien [1922−1972]. Wien [u.a.]: Jugend und Volk 1972, S. 154 ff.
  • Jean Maitron / Georges Haupt [Hg.]: Dictionnaire biographique du mouvement ouvrier international. Band 1: Autriche. Paris: Éditions Ouvrières 1971.
  • Norbert Leser [Hg.]: Werk und Widerhall. Große Gestalten des österreichischen Sozialismus. Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlung 1964, S.

168 ff.

  • Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung: Archiv. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung 4 (1964), S. 42 (Bibliographie)
  • Arbeiter-Zeitung. Zentralorgan der Sozialistischen Partei Österreichs. Wien: Vorwärts-Verlag 1889-1989, 24.07.1955, 24.07.1960
  • Felix Czeike: Wirtschafts- und Sozialpolitik der Gemeinde Wien. Wien [u.a.]: Jugend & Volk 1959 (Wiener Schriften, 11), S. 271 ff.
  • Österreichisches biographisches Lexikon 1815−1950. Hg. von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften / Wien / Graz: Böhlau 1954-lfd.
  • Otto Glöckel: Selbstbiographie. Sein Lebenswerk: Die Wiener Schulreform. Zürich: Verlag Genossenschaftsdruckerei 1939
  • Wiener Zeitung. 1703−lfd., 24.07.1935, 25.07.1935
  • Zehn Jahre Schulreform in Österreich. Eine Festgabe. Otto Glöckel dem Vorkämpfer der Schulerneuerung gewidmet von seinen Mitarbeitern. Wien: o.V. 1929.
  • Hans Fischl: Wesen und Werden der Schulreform in Österreich. Wien: Deutscher Verlag für Jugend und Volk 1929

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