Schlurf

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Daten zum Begriff
Art des Begriffs Dialektausdruck
Andere Bezeichnung
Frühere Bezeichnung
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Nachweisbar bis
Objektbezug
Quelle Felix Czeike: Historisches Lexikon Wien
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Letzte Änderung am 24.07.2019 durch DYN.tantner


Begriff

Im engeren Sinn Bezeichnung für einen männlichen jugendlichen Herumtreiber, der unter anderem durch seine Frisur (lange Haare und überlange Koteletten) auffiel, auf die er besonderes Augenmerk richtete; vor dem Ersten Weltkrieg gab es die Bezeichnung Pülcher (im Sinne des beschäftigungslosen Herumtreibers), danach (insbesondere im Pratermilieu) den Strizzi ("Praterstrizzi"). In der nationalsozialistischen Ära wurde die Schlurffrisur (mit "Lahmwöhn", "Hack", "Packl" und "Schwalbenschwanz") nach Ansicht vieler sozialdemokratischer Widerstandskämpfer zu einem sichtbaren Zeichen des politischen Widerstands umfunktioniert und von der Hitler-Jugend verfolgt (oftmals wurde gefaßten Schlurfs, auf die häufig regelrecht Jagd gemacht wurde, strafweise mit einer Handhaarschneidemaschine von der Stirn bis in den Nacken ein kahler Streifen geschoren). Nach dem Zweiten Weltkrieg verblasste die Erinnerung an diese Entwicklung allmählich, und man verstand in den fünfziger Jahren unter einem Schlurf wieder einen Herumtreiber.

"Schlurfs" als jugendliche Jazz-Subkultur im Konflikt mit der NS-Herrschaft

"Schlurfs" traten in Wien spätestens ab 1939 als Angehörige einer rund um den Jazz gebildeten Subkultur von Arbeiterjugendlichen auf, deren Treffpunkte der Prater und das dortige Zweite Kaffee, öffentliche Parks und Bäder, Ringelspiele (deren Betreiber die von "Schlurfs" mitgebrachten Swing-Schellacks spielten) sowie die Perfektionsstunden von Tanzschulen waren. Ihre Idole waren unter anderem der Musiker Hans Neroth, der das an den "Tiger-Rag" angelehnte Stück "Schwarzer Panther" spielte, sowie die Filmstars Fred Astaire, Ilse Werner, Marika Rökk und Johannes Heesters. Weibliche Subkulturangehörige wurden despektierlich als "Schlurfkatzen" bezeichnet und sind ungleich schlechter in Quellen belegt als ihre männlichen Pendants.

Die Lebensweise der "Schlurfs" wurde insbesondere nach der im März 1940 erlassenen "Polizeiverordnung zum Schutze der Jugend" kriminalisiert. Zu den von den NS-Behörden gegen "Schlurfs" getroffenen Maßnahmen zählten - abgesehen von den erniedrigenden Haarschuraktionen – die Einsetzung eigener Arbeitsgruppen von Hitlerjugend und Gestapo, Propagandaplakate sowie Hetzartikel in der Presse. Des weiteren wurden in Kinos, Tanzschulen sowie bei Musikveranstaltungen Razzien durchgeführt, 1943 etwa wurden nach einem Konzert im Apollotheater circa 200 Jugendliche verhaftet; die HJ führte Streifen unter anderem durch den Prater durch, gegen "Schlurfs" wurde das ab Herbst 1940 eingeführte Sanktionsmittel des "Jugendarrest" ("Wochenendkarzer") verhängt, sie wurden zum Reichsarbeitsdienst oder zur Wehrmacht eingezogen, im Extremfall drohte die Einweisung in die Jugendkonzentrationslager Moringen und Uckermark.

Der Gegensatz zur Hitlerjugend führte dazu, dass sich die sonst manchmal einander auch territorial bekämpfenden "Schlurfs" in Gruppen von 50, 60 und mehr Jugendlichen zusammenschlossen und HJ-Angehörige überfielen, zumindest einmal auch ein HJ-Heim in Wiener Neudorf. Dokumentiert sind auch Akte von Arbeitsverweigerung, Nichtbeteiligung an der (eigentlich verpflichtenden) Hitlerjugend, Versuche, sich der Einziehung zur Wehrmacht zu entziehen sowie Solidarisierungen mit Juden und Jüdinnen. Wenn auch die Taten der "Schlurfs" nicht als politischer Widerstand im engeren Sinn einzuschätzen sind, gelang es manchen doch, Kräfte eines Teils des NS-Terrorapparats zu binden; auch jenen, die nur ihren Stil ausübten, konnten sich dadurch dem Anpassungsdruck der NS-Herrschaft zumindest zeitweilig entziehen und damit deren Reichweite begrenzen.

Bürgerliche "Swings"

Im Gegensatz zu den proletarischen "Schlurfs", die bei ihrem Stil improvisieren mussten, konnten sich die Wiener "Swings" die Lokale der Wiener Innenstadt, darunter die "Steffl-Diele" des "Café de l’Europe" (1, Stephansplatz 8 und 8a) leisten. Zu ihnen zählten Helmut Qualtinger, Günther Schifter, Michael Kehlmann und der spätere Journalist Paul Bopp. Auch die "Swings" wurden verfolgt, bei einer Razzia in der Tanzschule "Immervoll" (1, Hegelgasse 3) nahm die Gestapo im Dezember 1944 43 Jugendliche fest, einige von ihnen wurden in das Arbeitserziehungslager Oberlanzendorf eingewiesen.

Literatur

  • Anton Tantner: Weg vom "Zündhölzelschnitt": Die langen Haare der "Schlurfs", in: Mit Haut und Haar. Frisieren, Rasieren, Verschönern. Hg. von Susanne Breuss. Wien: Metroverlag 2018, S. 355-358
  • Wolfgang Beyer / Monica Ladurner: Im Swing gegen den Gleichschritt. Die Jugend, der Jazz und die Nazis. St. Pölten/Salzburg: Residenz 2011
  • Klaus Schulz: Swinging Steffel. Jazz in Wien zwischen 1938 und 1945. Wien: Der Apfel 2008
  • Christian Gerbel: Lebenswelten von Wiener Arbeiterjugendlichen unter der NS Herrschaft: Administrative Karrieren und "Schlurf" Gruppen. Dissertation an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Wien 1993
  • Christian Gerbel / Alexander Mejstrik: Die Vorwegnahme des Kommenden: Am Beispiel der "Wiener Schlurfs" 1938 1945. Projekt einer systematischen Entwicklung des Gegenstandes – Theorie, Methode, Empirie. Diplomarbeit an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Wien 1988
  • Christian Gerbel / Alexander Mejstrik / Reinhard Sieder: Die "Schlurfs". Verweigerung und Opposition von Wiener Arbeiterjugendlichen im "Dritten Reich", in: NS-Herrschaft in Österreich 1938–1945. Hg. von Emmerich Tálos, Ernst Hanisch und Wolfgang Neugebauer. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1988, S. 243-268, Neuauflage in: NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch. Hg von Ernst Hanisch u. a., Wien: Österreichischer Bundesverlag 2000, S. 523-548