Die letzten Tage der Menschheit

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Letzte Änderung am 11.04.2024 durch WIEN1.lanm09lue

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Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog.

Entstehungsgeschichte

Karl Kraus' begann die Arbeit an seinem Weltkriegsdrama "Die letzten Tage der Menschheit" im Sommer 1915. Noch während des Ersten Weltkriegs, im Juli 1917, war eine erste Fassung abgeschlossen, die Kraus nach nochmaliger Überarbeitung zwischen Dezember 1918 und August 1919 in sukzessiven Sonderheften der "Fackel" veröffentlichte. Dass der Text unmittelbar nach Kriegsende erschien, zeigt, wie sehr Kraus um die politische Wirkung seines Stücks zu tun war. Diese sogenannte 'Aktausgabe' überarbeitete Kraus in den folgenden Jahren stark: Die bestehenden Szenen wurden inhaltlich kaum verändert, aber stark umgruppiert und um 50 weitere ergänzt, sodass der Gesamtumfang des Dramas inklusive Vorspiel und Epilog auf 220 Szenen anstieg. Diese neue Fassung, für die Kraus Materialien und Informationen einbeziehen konnte, die erst nach Kriegsende zugänglich wurden, unterscheidet sich stark von der Aktausgabe, was die Veränderung der politischen Einstellung des Autors in den Entstehungsjahren widerspiegelt – Kraus' antimilitaristische Haltung radikalisierte sich. Die überarbeitete Ausgabe erschien im Mai 1922 in einer Auflage von 5000 Exemplaren und wurde im Dezember mit der gleichen Auflagenhöhe erneut gedruckt. 1926 gab es eine weitere Auflage von 7000 Exemplaren, für die Kraus letzte geringfügige Veränderungen vornahm. Die stark (auf 87 Szenen) gekürzte sogenannte 'Bühnenfassung' entstand bis 1929 auf ein Ansuchen der Sozialdemokratischen Kunstelle in Wien hin, wobei die Aufführung jedoch nicht zustande kam und die Fassung unabgeschlossen blieb. Bei seiner 532. und 533. Vorlesung las Kraus allerdings selbst daraus. (Insgesamt las Kraus 90 Mal Szenen aus den "Letzten Tagen der Menschheit".) Die Bühnenfassung wurde 1992, von Eckart Früh rekonstruiert, erstmals veröffentlicht.

Materialien

"Die letzten Tage der Menschheit" stehen mit ihrem bemerkenswerten Umfang und der einzigartigen offenen Form ohne unmittelbares Vorbild außerhalb der Theatertradition. Was die Verwertung von dokumentarischem Material betrifft, hat das Stück einen bedeutenden Vorgänger in "Dantons Tod" von Georg Büchner.

Wie in sehr vielen seiner Texte verwertete Kraus auch in den "Letzten Tagen der Menschheit" Zeitungsmaterial, teils parallel zur Verwendung in der "Fackel"; auch manche in der "Fackel" abgedruckten Aphorismen legte Kraus etwa seinem "Nörgler" in den Mund.

Neben der Information aus Zeitungen bezog Kraus mündliche oder briefliche Informationen zum Kriegs- bzw. politischen Geschehen von Freunden und Bekannten; sein Netzwerk reichte bis in die oberen Schichten der Wiener Gesellschaft und des k. u. k. Militärs.

Textanalyse

Der Untertitel des Dramas lautet: "Eine Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog", der Begriff 'Tragödie' ist allerdings nicht in seiner theaterwissenschaftlichen Bedeutung zu verstehen. Der Begriff einer 'modernen Tragödie' wird von der zentralen, grundsätzlich modernen Frage der Undarstellbarkeit von extremem Leiden und absoluter Gewalt geleitet. Das Unnennbare zu nennen, das ist das Problem, das der Weltkrieg dem Satiriker stellt und das seine Antwort in einer Vielzahl von Strategien, allen voran die Fiktionalisierung des Dokumentarischen und die verfremdende Verwendung des Zitats, findet. Im Vorwort, in dem auch ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass in den "Letzten Tagen der Menschheit" das Tragische mit dem Komischen verschränkt ist, ist die Rede von einer "Tragödie der Menschheit", die von "Operettenfiguren" gespielt wird. Die Handlung der banalsten und nichtigsten, eben "Operettenfiguren", zeitigt tragische Konsequenzen. Was die Struktur betrifft, folgen "Die letzten Tage der Menschheit" einem strengen organisatorischen Kompositionsprinzip. Die grundsätzlich offene Struktur, die die erwähnte Umgruppierung der Szenen erlaubt, wird von bestimmten Elementen zusammengehalten. Das ganze Geschehen wird umrahmt von einem zweimal (am Ende des Prologs und am Ende des Schlussmonologs des Nörglers) verwendeten Zitat aus Shakespeares "Hamlet", mit dem die Zeugen-Figur Horatio aufgerufen wird, wodurch das Drama zugleich Teil einer kohärenten Erzählung wird. Auch wiederkehrende Figuren innerhalb des Dramas dienen der Bildung von Kohärenz, insbesondere Nörgler und Optimist, aber auch die (real existierende) Journalistin Alice Schalek oder Abonnent und Patriot, die immer zusammen auftreten, und viele andere.

Der wichtigste Leitfaden des Dramas ist die Kritik an der Presse. Die Rolle der Presse im Krieg beruht auf der Vermischung von 'Phrase' und 'Wirklichkeit'. Nicht nur, dass die Presse lügt, sondern auch dass sie die Sprache dazu missbraucht, eine zweite, rein ideologische Wirklichkeit zu schaffen, die den Blick für das tatsächliche Kriegsgeschehen verstellt, ist der Grund der Anklage. Als Medienereignis ist von der grundsätzlichen Unmenschlichkeit des Krieges nichts mehr erfahrbar und das konkrete Leiden der Opfer ist vollkommen unsichtbar geworden. Als Leitmotiv begegnet der Ruf "Extraausgabe!", insbesondere an der Sirk-Ecke, an der die ersten Szenen des Vorspiels und aller fünf Akte beginnen. Der Schauplatz ist ein Fixpunkt für den Aufbau der Handlung, an dem Wiederholung, Parallelisierung und Kontrastierung als strukturbildende Elemente zur Geltung kommen.

Anspielungen auf wichtige Momente des Kriegsgeschehens selbst, das im Drama nicht viel Raum einnimmt, markieren die Zeitentwicklung innerhalb der Handlung und verankern sie in der Welthistorie.

Ort und Zeit

Nur einige Szenen spielen an der Front oder in Frontnähe. Der Fokus des Dramas liegt auf dem Aufzeigen der moralischen Verfassung der Gesellschaft, die vom Kriegsgeschehen kaum berührt wird oder sogar vom Krieg profitiert, der sogar die Vorstellung des Kriegsgeschehens durch die sprachliche Vermittlung der ewig sich wiederholenden und Redensarten bemühenden Leitartikel erspart bleibt. An den gewählten Schauplätzen wird deutlich, dass der Übergang vom Öffentlichen ins Private fließend ist – die Handlung spielt sich auf den Straßen Wiens, im Kaffeehaus, in der Hofburg, aber auch in den Privatwohnungen der Figuren und an vielen anderen Orten ab.

Ein Aphorismus Kraus' von 1917 lautet: "Der Zustand, in dem wir leben, ist der wahre Weltuntergang: der stabile."[1] Er macht deutlich, wie die Zeit in den "Letzten Tagen der Menschheit" zu behandeln ist. Es gibt keine qualitative Entwicklung, das Geschehen ist beherrscht von der Mechanik der Wiederholung: Der Krieg wird nicht als Zäsur, sondern als selbstverständliche Fortführung 'normaler' Zustände dargestellt und nichts wird aus ihm gelernt werden, wie der Nörgler prophezeit: Die Kugel werde der Menschheit "bei einem Ohr hinein und beim anderen hinausgegangen sein" (I,4).

Figuren

Das äußerst umfangreiche Drama wird von einer entsprechend großen Anzahl an Figuren aus allen (auch sprachlichen) Schichten der Gesellschaft bevölkert, die zum Teil historische Personen sind (der österreichische und der deutsche Kaiser, aber auch verschiedene Generäle, Kriegsgewinnler, Journalistinnen, Literaten, die auf historischen Vorlagen beruhen), zum Teil erfundene Figuren, die soziale Typen repräsentieren. Die Figuren, denen ihre Eindimensionalität gemeinsam ist, gehen völlig in ihrer jeweiligen Funktion auf. Viele davon heißen auch nur nach ihrer Funktion (Abonnent und Patriot, Ein Zeitungsausrufer, Der Kriegsberichterstatter). Tragen die Figuren Namen, sind diese oft sprechend: Das Ehepaar Schwarz-Gelber, der Hauptmann de Massacré, der Oberst Meurtrier etc. Die Figuren der bewussten und unbewussten Täter und deren Helfershelfer bestimmen das Dramengeschehen, die Opferfiguren werden kaum gezeigt.

Der unverantwortliche Gebrauch der Sprache mit seinen verheerenden Wirkungen bildet einen roten Faden im Drama. Neben der Presse spielen in diesem Zusammenhang auch Schriftsteller- und Intellektuellenfiguren eine wichtige Rolle. Es sind die Typen, die Kraus in der "Dritten Walpurgisnacht" als "Worthelfer der Gewalt" bezeichnen wird. Kriegsdichter wie Alfred Kerr und Ottokar von Kernstock werden wörtlich zitiert und so der Missbrauch selbst der Poesie als Mittel der Gewalt gezeigt.

Eine besondere Stellung nimmt die Figur des Nörglers ein, die die Stimme der satirischen Instanz verkörpert, aber nicht einfach mit der Person des Karl Kraus zu identifizieren ist. Dass die Figur eine Art Maske für Kraus selbst ist, ist eindeutig, doch sie muss in ihrer Rolle im Drama begriffen werden. Diese Rolle ist vor allem die chorische des satirischen Kommentars, doch der Nörgler ist – als Mitglied der untergehenden Menschheit, als durch seine Ohnmacht Mitverantwortlicher – selbst in das Geschehen eingebunden. Auch eine erzählende Funktion kommt seiner Figur zu. In seinem großen Schlussmonolog (V,54) fasst er die ganze Handlung und deren Hauptmotive zusammen – als an eine möglicherweise befreite Nachwelt gerichteten Bericht.

In den meisten seiner Szenen befindet sich der Nörgler im Dialog mit dem Optimisten, der den patriotischen Gemeinsinn verkörpert. Dabei ist auffällig, dass das Gespräch auf zwei völlig verschiedenen Ebenen stattfindet, sodass es keine wirkliche Kommunikation geben kann. Dass die Argumentation des Nörglers vom Optimisten nicht verstanden wird, verdeutlicht die Isolation der satirischen Instanz inmitten der Kriegswelt. Der präzise, durchdachte Sprachgebrauch des Nörglers bildet einen deutlichen Kontrast zu den anderen Sprachebenen des Dramas – eine Utopie der vom Kriegsdiskurs verdrängten Möglichkeiten von Humanität.

Die Rolle des Zitats

Im Vorwort der "Letzten Tage der Menschheit" heißt es: "die grellsten Erfindungen sind Zitate" (S. 10, 9). Das ist wörtlich zu nehmen. Das Drama ist in großen Teilen eine Zitatmontage. Als unerschöpfliche Quelle geeigneten Materials zog Kraus vor allem Zeitungen heran, doch auch selbst oder von anderen mitgehörte Gesprächsfetzen baute er ein. Das Drama ist eine regelrechte Echokammer, deren Stimmenwirrwarr authentische Diskurse einverleibt wurden. Auch von Phrasen bzw. Zitaten, die im Kriegskontext Sprichwortcharakter annahmen, hallt es wider.

Auch literarische Zitate werden strategisch eingesetzt. In der zweiten Szene des letzten Akts zitiert der Nörgler aus Shakespeares König Lear: "Gott, wer darf sagen: schlimmer kanns nicht werden? S'ist schlimmer nun, als je." Dass Kraus die Stelle mit zentraler Bedeutung auch in der "Dritten Walpurgisnacht" verwendet, unterstreicht den Stellenwert des Zitats und zeigt, wie stark seine beiden größten Texte aufeinander bezogen sind. An anderer Stelle lässt Kraus den Nörgler einen Vers von Schiller so verändern, dass dessen Intention ins Gegenteil verkehrt wird. Im "Lied von der Glocke" heißt es "Frieden sei ihr erst Geläut"; dass im Weltkrieg Kirchenglocken in Kanonen umgegossen werden, kommentiert der Nörgler mit "Krieg sei ihr letzt Geläut" (II,19).

"Das technoromantische Abenteuer"

Als "technoromantisches Abenteuer" (IV,29) lässt Kraus den Nörgler den Weltkrieg bezeichnen. Der rasante technische Fortschritt der Moderne bedeutet im Ersten Weltkrieg die Möglichkeit, neuartige Waffen einzusetzen und so einen Massenkrieg zu führen, der sich in den anachronistischen Phrasen der Kriegsberichterstattung nicht fassen lässt: Der reale Gaskrieg hat mit dem vorgestellten Kampf "Mann gegen Mann" nichts mehr gemein. Im Wort "chlorreich", das zweimal vorkommt (III,14 und im Epilog) ist die Kritik an der romantischen und heldenhaften Phraseologie, die im völligen Widerspruch zur Wirklichkeit der modernen Kriegsführung steht, verdichtet.


Literatur

  • António Sousa Ribeiro: Die letzten Tage der Menschheit und weitere Dramen. In: Katharina Prager / Simon Ganahl [Hg.]: Karl Kraus-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Berlin: J.B. Metzler 2022, S. 163–182

Weblinks

Einzelnachweise