Lucie Varga

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Daten zur Person
Personenname Varga, Lucie
Abweichende Namensform Stern, Rosa
Titel Dr. phil.
Geschlecht weiblich
PageID 358453
GND 119011042
Wikidata Q2371567
Geburtsdatum 21. Juni 1904
Geburtsort Baden bei Wien
Sterbedatum 26. April 1941
Sterbeort Toulouse
Beruf Historikerin
Parteizugehörigkeit
Ereignis
Nachlass/Vorlass
Objektbezug
Quelle
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Recherche
Letzte Änderung am 3.11.2023 durch WIEN1.lanm09fri
Begräbnisdatum
Friedhof
Grabstelle
  • 1., Landesgerichtsstraße 18 (Wirkungsadresse)
Familiäre Beziehung
Berufliche Beziehung
Beziehung, Bekanntschaft, Freundschaft

Lucie Varga, * 21. Juni 1904 als Rosa Stern in Baden bei Wien, † 26. April 1941 in Toulouse, österreichische Historikerin, die sich der Annales-Schule zuordnete und als eine der Vordenkerinnen der Mentalitätsgeschichte gilt.

Biografie

Lucie Varga wuchs als jüngste Tochter von Julius Gyula Stern (1864-1938) und Malvine Tafler (1870-1944) in und um Wien auf, wo ihre Mutter nach der Trennung von ihrem Ehemann mit ihren Kindern lebte. Ihre Herkunft aus einer wohlhabenden jüdisch-ungarischen Familie ermöglichte ihr den Besuch der progressiven Schwarzwald-Schule, wo sie bereits als Schulkind ihren Vornamen von Rosa zu Lucie änderte. Obgleich sie bereits 1923 maturierte, inskribierte sie erst 1926 mittlere und neuere Geschichte sowie Kunstgeschichte an der Universität Wien. Gesundheitliche Gründe waren nach eigenen Angaben ausschlaggebend für diese Verzögerung - Lucie Stern litt seit ihrer Schulzeit an Diabetes mellitus. In diese Zeit fiel allerdings auch ihre Hochzeit (1924) mit dem Internisten Jószef Varga (1892-1944) und die Geburt ihrer Tochter Berta Varga (1925-2013).

Varga belegte unter anderem Lehrveranstaltungen bei Alfons Dopsch, Hans Hirsch, Oswald Redlich, Erna Patzelt, Moritz Schlick und Karl Bühler und dissertierte bei Dopsch mit "Eine Untersuchung über die Entstehung des Schlagworts vom 'finsteren Mittelalter'" - ihre Dissertation wurde in der Publikationsreihe des Seminars für Wirtschafts- und Sozialgeschichte veröffentlicht. Nach ihrer Promotion (1931) trat Varga aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus und ließ sich wenig später (1932) von ihrem ersten Ehemann scheiden. Mit ihrer Tochter lebte sie vorerst bei ihrer Mutter und wurde 1933 als "Historiker" in der Landesgerichtsstraße 18 selbst im Lehmann verzeichnet. In den frühen 1930er Jahren hielt sie Vorträge über mittelalterliche Geschichte sowie einen Kurs über "Europäische Kulturgeschichte" an der Urania. In dieser Zeit lernte sie auch den Philosophen Franz Borkenau kennen, den sie Ende 1933 heiratete. Aufgrund der politischen Entwicklungen in Deutschland und Österreich übersiedelte das Paar um die Jahreswende 1933/34 nach Paris. Während es Borkenau nicht gelang Fuß zu fassen und er weiter nach London und Panama zog, konnte Varga, die eine große Bibliothek und neue Forschungsvorhaben um die südfranzösischen Katharer mitbrachte, sich bald etablieren.

Schon 1934 kam "Madame Varga" in den Umkreis der französischen Historiker Lucien Febvre und Marc Bloch, wurde offenbar rasch Febvres Mitarbeiterin und Vertraute und publizierte als einzige Frau vor dem Weltkrieg regelmäßig in der von Febvre und Bloch herausgegebenen Zeitschrift "Annales d'histoire économique et sociale". Sie schrieb in dieser Zeit mentalitätsgeschichtliche Essays zur Situation in Deutschland, dachte über die Entstehung des Nationalsozialismus nach, untersuchte den Hexenglauben im Südtiroler Enneberg, beschrieb das Aufeinandertreffen von Tradition, Tourismus und Nationalsozialismus im vorarlbergischen Montafon und forschte nicht zuletzt weiter zu den Katharern.

Diese produktive Pariser Zeit fand 1937 ein jähes Ende - aus der Zusammenarbeit mit Lucien Febvre war eine Liebesbeziehung geworden, deren Ende Febvres Ehefrau Suzanne nach einer heftigen Krise verlangte. Damit verlor Varga ihren gesamten Pariser Kreis und musste nach dem Anschluss Österreichs 1938 in Paris - die 1936 von Borkenau geschieden worden war - eine Scheinehe eingehen, um die französische Staatsbürgerschaft zu bekommen. Um sich und ihre Tochter zu versorgen, arbeitet sie als Handelsvertreterin, als Fabrikarbeiterin, als Übersetzerin und als Landarbeiterin. 1940 floh sie zusammen mit ihrer 15-jährigen Tochter in den Süden Frankreichs und fand im Umkreis von Toulouse Unterkunft. Aufgrund der schlechten Versorgung mit Insulin verschlimmerte sich Vargas Zustand stetig und sie starb im April 1941 im Krankenhaus von Toulouse im diabetischen Koma.

Ihre Tochter Berta Varga überlebte den Weltkrieg und den Holocaust in Budapest - ihr erster Mann und ihre Herkunftsfamilie wurden ermordet. Ende der 1980er Jahre stieß der Historiker Peter Schöttler auf die so gut wie unbekannte Wienerin und machte ihre schmalen Hinterlassenschaften wieder zugänglich.

Quelle

Wienbibliothek im Rathaus: Lehmann: mit Volltext-Suchmöglichkeit

Literatur

  • Lucie Varga: Zeitenwende: Mentalitätshistorische Studien 1936-1939. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Peter Schöttler. Frankfurt/M.: Suhrkamp TB 1991 (Wissenschaft 892)
  • Peter Schöttler: Varga, Lucie. In: Brigitta Keintzel / Ilse Korotin (Hg.): Wissenschafterinnen in und aus Österreich. Leben – Werk – Wirken. Wien u. a.: Böhlau 2002, S. 768–770
  • Hanna Loewy: Ungleichzeitigkeiten. Lucie Varga im Montafon. In: Hanna Loewy / Gerhard Milchram (Hg.), "Hast du meine Alpen gesehen?" Eine jüdische Beziehungsgeschichte, Hohenems / Wien: Bucher 2009, S. 218–221

Literatur von und über Lucie Varga im Katalog der Wienbibliothek im Rathaus finden Sie hier.

Weblinks