Kartei der Fremden

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Eintrag der Familie Freud in der Kartei der Fremden. An dritter Stelle Sigmund Freud, Neurologe, Schöpfer und Begründer der Psychoanalyse
Daten zum Begriff
Art des Begriffs Quellenkunde
Andere Bezeichnung
Frühere Bezeichnung
Nachweisbar von 1870
Nachweisbar bis 1880
Objektbezug Konskriptionsamt, Volkszählung, Heimatrecht
Quelle
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Letzte Änderung am 25.07.2022 durch WIEN1.lanm08trj
Bildname WStLA Konskriptionsamt A17 Kartei der Fremden Jakob Freud.jpg
Bildunterschrift Eintrag der Familie Freud in der Kartei der Fremden. An dritter Stelle Sigmund Freud, Neurologe, Schöpfer und Begründer der Psychoanalyse

Die Verschärfung des Heimatrechts im Jahr 1863

Die Anfänge des Heimatrechts reichen bis in die Frühe Neuzeit zurück. Eine erste gesetzliche Regelung der „Zuständigkeit“ wurde im Zuge der mariatheresianischen Verwaltungsreformen 1754 kodifiziert. Im Wesentlichen schufen (Grund-)Besitz oder zehnjähriger Aufenthalt, soweit die Person einem „ehrlichen Erwerb“ nachging, die Basis für den Erwerb des Heimatrechts in einer Aufenthaltsgemeinde die nicht der eigenen Geburtsgemeinde entsprach.

Ausnahmen der erleichterten Erlangung des Heimatrechts betrafen besonders Personen im Staatsdienst. In der Folge kam es bis zur tatsächlichen Umsetzung der Gemeindeautonomie 1861 zu keinen größeren gesetzlichen Änderungen. Die starke Zuwanderung nach Wien und andere große Städte ließ deren Vertreter immer größer werdende Ausgaben in der Armenversorgung befürchten. Sie setzten daher mit dem Heimatgesetz vom 3. Dezember 1863 eine weitere Verschärfung des Zugangs zur Heimatberechtigung in Wien durch. Nach den Bestimmungen von 1863 erhielten nur Angehörige der Aristokratie und des Großbürgertums, Staats-, Landes- und Kommunalbeamten, Geistliche und Lehrer in öffentlichen Schulen den erleichterten Zugang zur Heimatberechtigung. Andere Zuwanderer, selbst wenn deren Ehefrauen und Kinder in Wien geboren waren, hatten auch nach zehnjährigem Aufenthalt keinen Anspruch auf Erlangung des Heimatrechts mehr. Der Anteil der Nichtheimatberechtigten erreichte dadurch einen Höchststand. Laut Volkszählung von 1880 waren im alten Stadtgebiet fast zwei Drittel der Einwohner nicht heimatberechtigt.[1]

Erfassung der Nichtheimatberechtigten vor 1870

Im Zuge der seit 1754 in regelmäßigen Abständen durchgeführten Konskriptionen wurde die nichtheimatberechtigte Bevölkerung (Fremde) in „Fremden-Tabellen“ gesondert erfasst. Diese Praxis wurde auch im Rahmen der ersten Volkszählung von 1857 fortgesetzt. Die Tabellen enthalten Angaben zu Namen, Geburtsjahr, Religion, Unterhalt und Familienstand, Heimatgemeinde, aus der Reise-Urkunde Zahl und Dauer des Aufenthaltstitels. Ergänzend führte das Konskriptionsamt ein „Verzeichniss Derjenigen, von welchen im Sinne § 38 der Volkszählungs-Vorschrift ein Auszug der Fremdentabelle an die Heimatgemeinde gesendet wurde“. Dabei handelte es sich um jene Nichtheimatberechtigten deren Heimatgemeinde nicht durch Dokumente geklärt werden konnte. Überforderung und Widerstand der Heimatgemeinden verhinderten jedoch eine genaue Erfassung der „Fremden“ im Rahmen der Zählung von 1857. Bei der darauffolgenden Volkszählung von 1869 ging man einen Kompromiss ein, indem alle erfassten Personen mit ungeklärter Heimatgemeinde der Gemeinde, in der sie am Stichtag 31.12.1869 anwesend waren, zugeschrieben wurde. Diese Vorgangsweise erwies sich als statistisch praktikabel. Die Ergebnisse der Volkszählung 1869 konnten rasch publiziert werden. Im Einzelfall entsprachen sie aber nicht der Rechtslage.

Kartei der Fremden

Die Durchführungsverordnung für die Volkszählung 1869 sah keine Bestimmung über die Führung von Fremden-Bögen oder ähnliche Listen mehr vor.[2] Bei den Volkszählungen 1870 und 1880 wurde daher neben der Zählung der in Wien heimatberechtigten Personen ein Fremden-Kataster angelegt, der alle Personen umfasst, die kein Heimatrecht in Wien besitzen. Im Gegensatz zur Vergangenheit wurden die Personen nicht mehr in Listen erfasst, sondern in Form von alphabetisch geordneten Karteikarten. Eine Karteikarte entspricht einem Familienblatt. Sie enthält den Vor- und Nachnamen des Familienoberhaupts oder einer Einzelperson (gleichzeitig der Schlüssel zum Auffinden einer Person) und die Namen der Angehörigen, jeweils mit Geburtsdatum und -ort, Angaben zu Religion, Familienstand, Beruf, zur Heimatgemeinde und die Wiener Wohnadresse wie sie anlässlich der Volkszählung 1869 und 1880 zum Stichtag 31. Dezember erhoben wurde. Nicht erfasst sind demgemäß zwischen den Volkszählungen von 1869 und 1880 Anwesende, die am 31.12.1880 bereits wieder abgewandert waren und nach 1880 Zugewanderte. Die Kartei der Fremden setzt in gewisser Weise die Fremden-Bögen der Volkszählung von 1857 und anderer vergleichbarer Erhebungen fort, denn in den Karteiblättern sind auch Vermerke zu Meldungen laut Volkszählung 1857, vereinzelt auch zur Konskription von 1850, und zur kommunalen Zählung von 1856 angebracht. Die Volkszählungen dienten also als eine Art Korrektiv, um die tatsächliche Zahl der „Fremden“ zu ermitteln. Die Kartei beinhaltet Vermerke über die Heimatscheine der jeweiligen in- und ausländischen Behörden, die in dieser Genauigkeit für Volkszählungszwecke nicht unbedingt erforderlich waren. Die Kartei umfasst rund 275.000-280.000 Familienbögen einschließlich einer großen Zahl von Einzelhaushalten.

Sigmund Freud, einer der prominenten Nichtheimatberechtigten aus der Kartei der Fremden (Foto: 1926)

Bedeutung

Im Zusammenspiel von Volkszählungswesen und Verschärfungen des Heimatrechts wie sie im Gesetz von 1863 ihren Ausdruck fanden, war man im Magistrat der Stadt Wien bestrebt, die gesamte wachsende nichtheimatberechtigte Bevölkerung in einer „Kartei der Fremden“ administrativ zu erfassen. Auf Grund der weitgehenden Skartierung der Einzelbögen der Volkszählungen der Jahre 1869 und 1880 im damaligen Stadtgebiet liefert die Kartei der Fremden wichtige demographische und sozialhistorische Daten für die Wiener Bevölkerung mit Migrationshintergrund während der Gründerzeit.[3] Ergänzend zu dieser Quelle haben sich für den überwiegenden Teil der Vororte die Volkszählungsbögen der Stichjahre 1869 und 1880 erhalten. Die nichtheimatberechtigte Bevölkerung Wiens der 1870er Jahre ist damit zum großen Teil in Form von Einzeldaten sozialhistorisch erschließbar. Im Gegensatz dazu liegen für die Volkszählungen der Jahre 1890-1910 Erfassungsbögen nur für einige wenige, primär transdanubische, (ehemalige) Vororte im Wiener Stadt- und Landesarchiv ein.

Quellen

Wiener Stadt- und Landesarchiv, Konskriptionsamt, A 17 (Kartei der Fremden)

Literatur

  • Sylvia Hahn, Migration – Arbeit – Geschlecht. Arbeitsmigration in Mitteleuropa vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (Transkulturelle Perspektiven 5), Göttingen: V&R unipress 2008
  • RGBl. 147/1869
  • Andreas Weigl, Wien um 1900: ein Sonderfall in der Wiener Migrationsgeschichte? Der „Schmelztiegel“ in der kollektiven Erinnerung. In: Elisabeth Röhrlich – Agnes Meisinger (Hg.), Migration und Innovation um 1900: Neue Perspektiven auf die Wiener Jahrhundertwende, Wien-Köln-Weimar: Böhlau Verlag 2016, 503-524.

Einzelnachweise:

  1. Sylvia Hahn, Migration – Arbeit – Geschlecht. Arbeitsmigration in Mitteleuropa vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (Transkulturelle Perspektiven 5), Göttingen: V&R unipress 2008, 133-155.
  2. RGBl. 142/1869.
  3. Andreas Weigl, Wien um 1900: ein Sonderfall in der Wiener Migrationsgeschichte? Der „Schmelztiegel“ in der kollektiven Erinnerung. In: Elisabeth Röhrlich – Agnes Meisinger (Hg.), Migration und Innovation um 1900: Neue Perspektiven auf die Wiener Jahrhundertwende, Wien-Köln-Weimar: Böhlau Verlag 2016, 503-524.