Erica Tietze-Conrat
Erica Tietze-Conrat, * 20. Juni 1883 Wien, † 12. Dezember 1958 New York, Kunsthistorikerin.
Biografie
Familiärer Kontext
Erica Conrat wurde am 20. Juni 1883 als jüngstes Kind des Kaufmanns Hugo Conrat (1845–1906, geborener Cohn, 1882 Namenswechsel zu Conrat) und Ida Conrat (1857–1938, geborene Kohn) in Wien geboren. Die großbürgerliche, jüdische Familie war an Kultur, Kunst und Musik interessiert. Ihr Vater war mit Johannes Brahms befreundet. Das Haus der Eltern wurde häufig zum Treffpunkt von Künstler*innen und Musiker*innen wie dem Komponisten und Pianisten Ferruccio Busoni, dem Dirigenten und Komponisten Alexander von Zemlinsky, dem Künstler Fernand Khnopff oder dem Bildhauer Charles von der Stappen. Sie und ihre beiden Schwestern, Ilse von Twardowski-Conrat und Felicia Fränkel (1881–1955), erhielten eine umfassende und gute Schulbildung. Die älteste Schwester Ilse wurde Bildhauerin und war 1910 die Vizepräsidentin der Vereinigung bildender Künstlerinnen Österreichs (VBKÖ). Erica besuchte die Mädchen- und Erziehungsanstalt Hanausek-Stonner und das Mädchengymnasium in der Hegelgasse im ersten Wiener Gemeindebezirk, an dem sie 1901 die Reifeprüfung (Matura) ablegte.
Studium, Arbeit & Leben
Ab 1900 wurden Frauen zum Studium an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien zugelassen. Ab 1901 studierte Erica Conrat Archäologie und Kunstgeschichte bei Alois Riegl und Franz Wickhoff, zwei der zentralen Figuren der Wiener Schule der Kunstgeschichte. Am 20. Dezember 1905 promovierte sie als erste Frau in der Kunstgeschichte an der Universität Wien. Ihre Dissertation trug den Titel "Beiträge zur Geschichte Georg Raphael Donners". Zwei Jahre zuvor, 1903, hatte sie ihren Studienkollegen Hans Tietze geheiratet. 1907 zogen sie in ein vom Architekten Hartwig Fischel gebautes Haus in der Armbrustergasse 20 im 19. Wiener Gemeindebezirk. In den folgenden Jahren bekamen sie vier Kinder, Christopher Tietze (1908–1984, Arzt), Andreas Tietze (1914–2003, Professor für Turkologie), Walburg Rusch (1915–2011, Grafikerin) und Veronica Tietze (1918–1927). Erica Tietze-Conrat und ihr Mann Hans Tietze waren mit zahlreichen zeitgenössischen Künstler*innen befreundet und innerhalb der inter- und nationalen Kunstszene sehr gut vernetzt. 1909 malte der Künstler Oskar Kokoschka ein Doppelportrait des Paares, das heute Teil der Sammlung des Museums of Modern Art in New York ist. Der Bildhauer Georg Ehrlich produzierte Bronzebüsten von Erica Tietze-Conrat und ihrem Mann, welche sich in der Österreichischen Galerie Belvedere in Wien befinden, sowie zahlreiche Portraitzeichnungen. Der US-amerikanische Maler Josef Floch und Mimi Floch, die Komponistin Alma Mahler und die Komponisten Alexander von Zemlinsky und Arnold Schönberg gehörten zu ihren Freund*innen. Die Tietzes förderten zeitgenössische Künstler*innen, verhalfen zu Ausstellungen und Museumsankäufen.
Erica Tietze-Conrat war Kunsthistorikerin und unterrichtete an der Wiener Urania und anderen Volksbildungseinrichtungen. Außerdem war sie freie Mitarbeiterin an der Graphischen Sammlung der Albertina. Nach einer schweren Krankheit 1921 legte sie den Fokus ihrer Arbeit auf die Textproduktion. Sie schrieb poetische Texte, acht Theaterstücke, 15 Erzählungen und versuchte sich an einem Roman. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit lag allerdings auf der Verfassung zahlreicher Fachbeiträge und Ausstellungsberichte. Sie wurde zur Expertin für österreichische Plastik im Barock und im Klassizismus. Später vertiefte sie ihre Expertise zur italienischen Renaissance. Sie publizierte eine Vielzahl an Texten gemeinsam mit ihrem Mann Hans Tietze, beispielsweise zwölf Bände zur Österreichischen Kunsttopographie an der sie von 1906 bis 1911 arbeiteten. Sie war außerdem Sammlerin und mit vielen Vertreter*innen internationaler Museen, Kunsttheoretiker*innen, Sammler*innen, Händler*innen und Künstler*innen in kontinuierlichem Austausch.
1919 erhielt Hans Tietze den Titel eines außerordentlichen Professors für Kunstgeschichte an der Universität Wien, hatte aber keine entsprechende Stelle. Zwischen 1900 und 1925 war er eine wichtige Figur in der Kunstgeschichte, im Denkmalschutz und beim Erhalt des habsburgischen Kunstbesitzes nach dem Ersten Weltkrieg. Als Ministerialrat im Unterrichtsministerium versuchte er von 1919 bis 1926, die ehemals kaiserlichen und staatlichen Sammlungen zu vereinen, zu reformieren und für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Trotz erster Erfolge scheiterte er an konservativem Widerstand und verließ 1926 den Staatsdienst. Danach unternahmen Erica und Hans Tietze eine mehrmonatige Spanienreise, welche in ihren 2015 veröffentlichten Tagebüchern dokumentiert ist. Die schwindende Hoffnung an einer humanistischen Modernisierung Österreichs mitarbeiten zu können, wird in diesen privaten Texten deutlich. Ab 1935 unternahmen sie weitere Forschungsreisen in Europa und den USA. Gemeinsam forschten und arbeiteten sie in großen Museen, Privatsammlungen und Archiven. In diesem Kontext entstand ein umfassendes Werk über venezianische Zeichnungen der Renaissance.
Nationalsozialismus & Emigration & Posthume Ehrung
Zum Zeitpunkt des sogenannten "Anschlusses" Österreichs an das Dritte Reich waren Erica Tietze-Conrat und Hans Tietze in Italien und kehrten nicht mehr nach Österreich zurück. 1939 flüchteten sie nach Toledo in Ohio/USA und lebten ab 1940 in New York. Trotz guter internationaler Vernetzung und Wertschätzung konnten sie keine entsprechenden Positionen im dortigen Kunst- und Wissenschaftsbetrieb finden. Das Exil bedeutete den sozialen Abschied für das Ehepaar. Das Portrait von Oskar Kokoschka konnte gerettet, musste aber 1939 verkauft werden. Von 1954 bis 1956 unterrichtete Tietze-Conrat an der Columbia University in New York. Zwei Jahre später 1958 verstarb sie.
2004 wurde in Wien eine international agierende "Hans Tietze und Erica Tietze-Conrat Gesellschaft" zur Pflege des Gesamtwerkes gegründet. 2008 wurde ihr Name am Denkmal für Ausgegrenzte, Emigrierte und Ermordete des Kunsthistorischen Instituts der Universität Wien am Campus der Universität (Hof 9) eingetragen. Seit 2014 ist ein Teilnachlass in der Wienbibliothek zugänglich und 2015 wurde an ihrem ehemaligen Wohnhaus eine Gedenktafel montiert. Im selben Jahr wurden die neuerrichteten Grafiksäle der Graphischen Sammlung der Albertina nach dem Ehepaar Tietze benannt und tragen nun den Namen "Tietze Galleries für Druckgrafik und Zeichnungen". Am 4. November 2024 wurde das "Tietze-Tor" am Uni Wien Campus eröffnet. Es verbindet den Hof 3 mit Hof 13. Die Benennung wurde im November 2023 im Senat beschlossen und im Zuge der Neugestaltung der "Tore der Erinnerung" am Campus im Herbst 2024 umgesetzt.
Werke (Auswahl)
- Erica Tietze-Conrat. Tagebücher. Band 1: Der Wiener Vasari (1923-1926). Band 2: Mit den Mitteln der Disziplin (1937-1938). Band 3: Register und Anhang. Herausgegeben von Alexandra Caruso. Wien: Böhlau 2015
- Unbekannte Werke von G. R. Donner. In: Jahrbuch der k. k. Zentral-Kommission für Erforschung und Erhaltung der kunst- und historischen Denkmale, N.F. 3, 2. T., Wien 1905
- Die Kunst der Frau. Ein Nachwort zur Ausstellung in der Wiener Sezession. In: Zeitschrift für bildende Kunst. Neue Folge. Band 22, 1911, S. 146–148
- Die Linearkomposition bei Tizian. In: Kunstgeschichtliche Anzeigen, H. 3/4, Wien 1915
- Die Bronzen der fürstlich Liechtensteinschen Kunstkammer. In: Jahrbuch des kunsthistorischen Instituts der k. k. Zentralkommission für Denkmalpflege, Bd. 11, Wien 1917
- Österreichische Barockplastik. Wien 1920
- Die Erfindung im Relief, ein Beitrag zur Geschichte der Kleinkunst. In: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen, Bd. 35, Wien 1920
- Oskar Laske. Wien 1921
- Der Utrecht-Psalter, Wien 1921
- Andrea Mantegna (Bibliothek der Kunstgeschichte 51). Leipzig 1923
- Der französische Kupferstich der Renaissance. München 1925
- Abschied (Poems). Radierungen von Georg Ehrlich, 1926
- gem. m. Hans Tietze: Domenico Campagnola's graphic art, London 1926
- gem. m. Hans Tietze: Kritisches Verzeichnis der Werke Albrecht Dürers 1, Der junge Dürer (Verzeichnis der Werke bis zur venezianischen Reise im Jahre 1505), Augsburg 1928
- gem. m. Hans Tietze: Kritisches Verzeichnis der Werke Albrecht Dürers 2.1, Der reife Dürer (Von der venezianischen Reise im Jahre 1505 bis zur niederländischen Reise im Jahre 1520 nebst Nachträgen aus den Jahren 1492-1505), Basel u.a. 1937
- gem. m. Hans Tietze: Kritisches Verzeichnis der Werke Albrecht Dürers 2.2, Der reife Dürer (Von der niederländischen Reise im Jahre 1520 bis zum Tode des Meisters 1528), Basel u.a. 1938
- gem. m. Hans Tietze: The Drawings of the Venetian Painters in the 15th and 16th Centuries. New York 1944 (²1970, ³1979)
- Mantegna. Paintings, Drawings, Engravings. London 1955
- Georg Ehrlich. London 1956
- Dwarfs and Jesters in Art. London 1957
- „I then asked myself: what is the ‚Wiener Schule‘?“ Erinnerungen an die Studienjahre in Wien [1958]. In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte. 59, 2011, 207–218
- Tagebücher. 3 Bände. Hrsg. von Alexandra Caruso, Böhlau, Wien 2015
Quellen
- Wienbibliothek im Rathaus: Sammlung Hans Tietze - Erika Tietze-Conrat
- Wienbibliothek im Rathaus: Teilnachlass Hans Tietze - Erika Tietze-Conrat
- Wienbibliothek im Rathaus, Tagblattarchiv: Tietze-Conrat, Erika (Signatur: TP-052265)
Literatur
- Erica Tietze-Conrat: Die Frau in der Kunstwissenschaft. Texte 1906–1958. Hrsg. von Almut Krapf-Weiler. Wien: Schlebrügge 2007
- Sabine Plakolm-Forsthuber: Tietze-Conrat, Erica, geb. Conrat. In: Wissenschafterinnen in und aus Österreich. Leben - Werk - Wirken. Wien: Böhlau 2002, S. 749-753
- Wienbibliothek im Rathaus – Blog: Teilnachlass Hans Tietze / Erika Tietze-Conrat [Stand: 09.09.2024]
- Frauen in Bewegung: Erica Tietze-Conrat [Stand: 24.06.2022]
Erika Tietze-Conrat im Katalog der Wienbibliothek im Rathaus.