Arbeiterkultur

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Quelle Felix Czeike: Historisches Lexikon Wien
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Arbeiterkultur. Die österreichische Arbeiterbewegung verstand sich von ihren ersten Gründungstagen an - teilweise in konfliktueller Spannung zu den anderen Mitgliedsparteien der zweiten Internationale – vornehmlich als Kulturbewegung, als Mittel zur sittlichen, moralischen und intellektuellen Hebung der Arbeiterschaft. Die Ausbildung und Entwicklung von Volksbildungseinrichtungen, Partei- und Gewerkschaftsbüchereien, Sportorganisationen und lebensreformerischen Vereinen wurde so zu einem zentralen Punkt der politischen Kultur. Ausgehend von der in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts bedrohlich angewachsenen physischen und psychischen Verelendung weiter Teile der industriellen und gewerblichen ArbeiterInnenschaft, aber auch vom alarmierenden Zustand der "Volksgesundheit" im allgemeinen, entwickelte die radikaldemokratische Führungsgarnitur um Viktor Adler Konzepte zur „Veredelung" der breiten Volksmassen, die eben nicht nur die Durchsetzung gesetzlicher Arbeiterschutzmaßnahmen, sondern auch die Schaffung von Bildungs- und Erziehungsorganisationen der ArbeiterInnenschaft selbst vorsahen. Als Massenorganisationen mit Tausenden aktiven Mitgliedern waren diese Vereine nicht nur Freizeit- oder politische Hilfsorganisationen, sondern bildeten als Ensemble ein unabhängiges kulturelles Netzwerk. Über die Kultur- und Bildungsorganisationen fand die ArbeiterInnenschaft Zugang zur Literatur, zu den neuen wissenschaftlichen Anschauungen und zur Tradition der Klassik im allgemeinen. Wissenschaftler wie Paul Kammerer und Wilhelm Jerusalem, Literaten wie Peter Altenberg, Egon Friedell, Alphons Petzold und Stefan Zweig, Musiker wie Franz Schreker und Anton von Webern, Schauspieler wie Max Devrient, Stella Hohenfels und Hansi Niese kamen über dieses Organisationsnetz in Kontakt zur Arbeiterbewegung. Neben den Naturfreunden, die gleichsam zum ersten internationalen Exportgut der österreichischen Arbeiterbewegung wurden, dürfen die "Freidenker" als eine der frühesten Organisationen dieser Art gelten. Sie sind in vielerlei Hinsicht prototypisch für die Arbeiterbewegung überhaupt, auch in dem Sinn, dass sie in ihren Gründungsstadien von freisinnig-bürgerlichen Intellektuellen dominiert wurden. In ihrem Bemühen um ein wissenschaftliches Weltbild gerieten sie in einen überaus harten Kulturkampf mit der katholischen Kirche und wurden, insbesondere da sie die unter der Arbeiterschaft weitverbreiteten antiklerikalen Ressentiments und Gefühle aufzugreifen und theoretisch umzusetzen vermochten, zur Massenorganisation. Ihren organisatorischen Höhepunkt erreichten sie 1928/1929, wo man von einer aktiven Mitgliederzahl von mehr als 40.000 ausgehen darf. Die "Freidenker" bemühten sich, durchaus mit unterschiedlichen Erfolgen, um die Entwicklung einer neuen "proletarischen" Ethik, die sich an die zeitgenössische, materialistische Wissenschaft anlehnte, und auf positivistisches und agnostisches Gedankengut beruhte. In diesem Umfeld entwickelten sich auch die Arbeiter-Feuerbestattungsvereine (seit 1885; Flamme) und vor allem der pädagogische Reformverein "Freie Schule"; 1905 gegründet, war er aus der Bewegung "Die Jungen" hervorgegangen, einer Vereinigung von liberalen, freisinnigen und sozialdemokratischen antiklerikalen Lehrern. Erster Vorsitzender war der von der christlichsozialen Schulbehörde gemaßregelte Otto Glöckel, später Unterrichtsminister und nach 1920 Präsident des Wiener Stadtschulrats. Noch vor dem Ersten Weltkrieg kam es zur Vereinigung mit dem 1908 von Anton Afritsch in Graz gegründeten "Arbeiterverein Kinderfreunde". Neben dieser freisinnig-antiklerikalen Wurzel waren es vor allem die lebensreformerischen Bestrebungen, die der Arbeiterbewegung den größten Auftrieb gaben. Bedenkt man den in tiefstem sozialen Elend wurzelnden weitverbreiteten Alkoholismus in der Arbeiterschaft, so muss das Wirken der Abstinentenbewegung wohl als eine der bedeutendsten Kulturleistungen in diesem Zusammenhang gesehen werden. Berühmt wurden Viktor Adlers unvergleichliche Streitschriften und Polemiken gegen jeglichen Alkoholkonsum; er selbst war, um ein Beispiel zu geben, um die Jahrhundertwende abstinent geworden. Im Gegensatz zu den romanischen und vor allem anglo-amerikanischen Ländern wurde die Abstinentenbewegung in Österreich unter der Anleitung sozial engagierter Ärzte insbesondere von der Arbeiterschaft getragen und nach 1918 von der ebenfalls zur Massenerscheinung heranwachsenden sozialdemokratischen Jugendbewegung als ein zentrales Wesensmerkmal des "Neuen Menschen" begriffen. Die von der Abstinentenbewegung propagierte umfassende Rigidität und ihr Puritanismus sowie verschiedene von ihr ideologisierte Aspekte der Genetik und Eugenik trafen in der Arbeiterbewegung selbst auf heftige Kritik und wurden von den sich um die Jahrhundertwende entwickelnden Arbeiterturnern (bei denen der Kampf gegen körperliche Degeneration und für die Qualifizierung der individuellen Arbeitskraft im Mittelpunkt stand; Arbeitersport), Arbeiterradfahrern (Fahrrad) und Naturfreunden nur bedingt rezipiert. In der Zwischenkriegszeit ergab sich daraus eine Revolutionierung alltäglicher Lebenszusammenhänge und Verhaltensweisen. In ihrem Umfeld entwickelte sich die später berühmt gewordene Freikörperkultur in der Lobau.
In den 1920er und 1930er Jahren wurden die Kulturorganisationen der Arbeiterschaft in die "Höhen eines zentralen, sozialistischen Kampfmittels" hochstilisiert. Während seines ganzen Lebens sollte der Arbeiter in ein Netz von gegenkulturellen Organisationen eingebunden sein: eine ganzheitliche Strategie, die in den Blütezeiten des "Roten Wien" eine erstaunliche Umsetzung gefunden hat. Das Verbot sämtlicher dieser Kulturorganisationen nach dem 12. Februar 1934 ließ die Mehrzahl der darin Eingebundenen perspektivlos zurück. Gelegentliche Versuche einer Wiederbelebung nach 1945 waren wenig erfolgreich; die geänderten soziologischen und politischen Voraussetzungen der späten 1950er und der 1960er Jahre bedeuteten das endgültige Ende dieser Form von Arbeiterkultur.

Literatur

  • Dieter Langewiesche: Zur Freizeit des Arbeiters. Bildungsbestrebungen und Freizeitgestaltung österreichischer Arbeiter im Kaiserreich und in der Ersten Republik. Stuttgart: Klett-Cotta 1980
  • Hugo Pepper: Die frühe österreichische Sozialdemokratie und die Anfänge der Arbeiterkultur. In: Wolfgang Maderthaner [Hg.]: Sozialdemokratie und Habsburgerstaat. Wien: Löcker 1988, S. 79 ff.
  • Hugo Pepper: Bildungs- und Kulturarbeit. In: Kurt Stimmer [Hg.]: Die Arbeiter von Wien. Ein sozialdemokratischer Stadtführer. Wien [u.a.]: Jugend & Volk 1988, S. 140 ff.
  • Alfred Georg Frei: Die Arbeiterbewegung und die "Graswurzeln" am Beispiel der Wiener Wohnungspolitik 1919 - 1934. Wien: Braumüller 1991 (Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit, 7), S. 108 ff.
  • Wolfgang Maderthaner: Sport für das Volk. In: Helene Maimann [Hg.]: Die ersten 100 Jahre. Österreichische Sozialdemokratie 1888 - 1988. Wien [u.a.]: Brandstätter 1988 S. 174 ff.
  • Mit uns zieht die neue Zeit. Arbeiterkultur in Österreich 1918 - 1934. Eine Ausstellung der Österreichischen Gesellschaft für Kulturpolitik und des Meidlinger Kulturkreises. Straßenbahn-Remise Wien Meidling Koppreitergasse 23. Jänner - 30. August 1981. Wien : Habarta & Habarta 1981
  • Manfred Marschalek: Der abgehalfterte Drahtesel. Die proletarische Fahrradkultur. In: Mit uns zieht die neue Zeit. Arbeiterkultur in Österreich 1918 - 1934. Wien: Habarta & Habarta 1981, S. 158 ff.