Arbeiterbildungsvereine
Anfänge
Die Märzrevolution 1848 führte zur Entstehung der ersten Organisationen von Arbeitern, denen bewusst geworden war, dass nur eine höhere Bildung ihren politischen und kulturellen Aufstieg ermöglichen würde. Auf Betreiben des Buchbindergesellen Friedrich Sander wurde am 24. Juni 1848 der "Erste Allgemeine Arbeiterverein" im Gasthaus Fürstenhof, Wien 3., Beatrixgasse 19, gegründet. Zum geplanten Programm zählten leichtfassliche Vorträge, eine Bibliothek und die Förderung der Geselligkeit durch einen Gesangsverein. Vorbild waren Einrichtungen der Arbeiterbildung, die es in England schon seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts gab, und verschiedene deutsche Arbeiterbildungsvereine. Nach der Niederschlagung der Revolution im Oktober 1848 wurde der Verein jedoch aufgelöst, bevor er mit einer systematischen Bildungsarbeit beginnen konnte.
"Unpolitische" Vereine
Die Dezemberverfassung von 1867 führte zu einem Vereins- und Versammlungsgesetz, das die Gründung "unpolitischer" Vereine erlaubte. Noch im selben Jahr konstituierte sich der Arbeiterbildungsverein Gumpendorf; weitere Vereinsgründungen folgten. Ziele waren nicht nur Bildungsarbeit, die soziale Absicherung der Mitglieder (Kranken- und Invaliditätskassen) und die Pflege der Geselligkeit (Gesangs- und Turngruppen), sondern sehr wohl auch eine Politisierung der Arbeiter im Kampf um bürgerlich-demokratische Rechte wie Wahlrecht oder Pressefreiheit. In Ottakring engagierte sich vor allem Franz Schuhmeier in der Gründung mehrerer Bezirksorganisationen, darunter des "Rauchklubs Apollo", des Vorläufers des späteren Arbeiterbildungsvereins Ottakring.
Ideologisch orientierten sich die Arbeiterbildungsvereine an den deutschen Sozialdemokraten; sie sympathisierten mit der Ersten Arbeiterinternationale von 1864 und boten so den Behörden den Vorwand zum Verbot. 1870 wurde gegen die Exponenten des Wiener Vereins Heinrich Oberwinder und Andreas Scheu ein Hochverratsprozess angestrengt, was zu stürmischen Straßenkundgebungen führte. Danach wurden die meisten Arbeiterbildungsvereine aufgelöst.
Bildung und Politik
Im selben Jahr, 1870, beschloss der Reichsrat jedoch das Koalitionsgesetz, das den Arbeitern in weiterer Folge auch die Gründung von Vereinen mit politischer Zielsetzung ermöglichte. Der Arbeiterbildungsverein wurde im Oktober 1870 wieder zugelassen, und 1872 gab es bereits 59 dieser Institutionen und 78 Gewerkschaftsvereine mit zusammen etwa 80.000 Mitgliedern. Der erste Arbeiterinnen-Bildungsverein erlebte seine Gründung bereits 1871; er stellte seine Tätigkeit jedoch bald wieder ein. 1890 etablierte sich dann ein neuer Verein für Frauenbildungsarbeit, der länger Bestand hatte.
Die Tätigkeit der Arbeiterbildungsvereine wurde von den Behörden nach wie vor behindert: Die Zensur von Zeitungen, die Beschlagnahme von Büchern und Broschüren, das Verbot von Veranstaltungen und Hausdurchsuchungen standen auf der Tagesordnung. Interne Fraktionskämpfe und die 1873 einsetzende Wirtschaftskrise trugen außerdem zum Niedergang bei.
Nach dem Hainfelder Parteitag 1888/89 wurden die Arbeiterbildungsvereine von den gewerkschaftlichen Zusammenschlüssen der einzelnen Berufsgruppen zurückgedrängt, die ebenfalls die Vermittlung von Wissen, Aufklärung und Bildung zu ihren Aufgaben erklärt hatten.
Zentralisierung und Ausweitung
1908 erfolgte die Eingliederung der Arbeiterbildungsvereine in die Sozialdemokratische Partei (SDAP). Die Bildungsaufgaben übernahm schließlich die 1909 gegründete Zentralstelle für das Bildungswesen in Wien.
Bis zum Ersten Weltkrieg entwickelte sich das Arbeiterbildungswesen zu einer Bewegung der Arbeiterkultur, die alle Altersstufen, Lebensbereiche und Interessensgebiete – nicht nur Bildung, sondern auch Freizeit, Kultur und Sport - abdeckte. Nach einer Stagnation während des Krieges kam es in der Ersten Republik zu einer neuen Blüte bestehender und neugegründeter Freizeit- und Kulturvereinigungen. Eine besondere Einrichtung der Arbeiterbildung war die Arbeiterhochschule, an der neben führenden Funktionären der Partei auch bedeutende Wissenschaftler unterrichteten. Der Betrieb begann 1926; er musste allerdings bereits 1930 wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten eingestellt werden.
Literatur
- Ausstellungskatalog: Vom Arbeiterbildungsverein zum Roten Salon. 12 Meilensteine der Sozialdemokratie. Wien: Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung 1995 (Dokumentation 1/1995)
- Bücher-Verzeichnis, Arbeiter-Bildungsverein Wien (Einleitungen Rudolf Neuhaus, Vorwort Josef Luitpold). Wien: Verlag des Vereines 1914
- Wilhelm Ellenbogen: Geschichte des Arbeiter-Bildungsvereines in Gumpendorf (VI. Gemeinde-Bezirk von Wien). Ein Beitrag zur Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung. Wien: Verlag des Vereines 1892
- Festschrift anlässlich des 40jährigen Bestandes des Arbeiter-Bildungsvereines Wien. Wien: Verlag des Vereines 1907
- Martina Klenner: Der Stellenwert von Bildung in der Entwicklung der österreichischen Arbeiterbewegung (1867 bis 1914). Dipl.-Arb. Univ. Wien. Wien 1991
- Primus-Heinz Kucher et al.: Die Schul- und Bildungspolitik der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik. Wien: Österreichischer Bundesverlag o. J.
- Dieter Langewiesche: Zur Freizeit des Arbeiters. Bildungsbestrebungen und Freizeitgestaltung österreichischer Arbeiter im Kaiserreich und in der Ersten Republik, Stuttgart: Klett-Cotta 1980
- Hugo Pepper: Bildungs- und Kulturarbeit. In: Kurt Stimmer [Hg.]: Die Arbeiter von Wien. Ein sozialdemokratischer Stadtführer. Wien [u. a.]: Jugend & Volk 1988, 140-144
- Maren Seliger / Karl Ucakar: Wien. Politische Geschichte 1740-1895. Wien: Jugend & Volk 1985 (Geschichte der Stadt Wien, 1), S. 349-350
- Kurt Stimmer [Hg.]: Die Arbeiter von Wien. Ein sozialdemokratischer Stadtführer. Wien [u. a.]: Jugend & Volk 1988, S. 113