Wilhelm Reich: Unterschied zwischen den Versionen

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Reich, Wilhelm (Pseudonym Ernst Parell)
 
Reich, Wilhelm (Pseudonym Ernst Parell)
  
Reich stammte aus der Bukowina (Österr.-Ungarn), wo seine Familie ein Landgut bewirtschaftete. Seine Eltern hatten sich aus der jüdischen Tradition ihrer Vorfahren gelöst und der deutschen Kultur assimiliert, ohne jedoch einer christlichen Kirche beigetreten zu sein. Reich wurde zunächst durch Privatlehrer unterrichtet und besuchte später das Gymnasium der Provinzhauptstadt Czernowitz. Seine Jugend war von tragischen Ereignissen überschattet. Im Alter von zwölf Jahren wurde er durch den Selbstmord seiner Mutter, in dessen Vorgeschichte er sich verstrickt sah, seelisch stark traumatisiert. Fünf Jahre später, 1914, starb Reichs Vater an Tuberkulose, die er sich vermutlich in suizidaler Absicht  zugezogen hatte. Reich hatte nun die Leitung des Gutes zu übernehmen und schloss daneben seine Schulausbildung mit dem Abitur ab. Der Beginn des Weltkrieges zwang ihn zu dreieinhalb Jahren Dienst als Soldat. Anschließend ging Reich, inzwischen mittellos, nach Wien und studierte Medizin.
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Reich stammte aus der Bukowina (Österreich-Ungarn), wo seine Familie ein Landgut bewirtschaftete. Seine Eltern hatten sich aus der jüdischen Tradition ihrer Vorfahren gelöst und der deutschen Kultur assimiliert, ohne jedoch einer christlichen Kirche beigetreten zu sein. Reich wurde zunächst durch Privatlehrer unterrichtet und besuchte später das Gymnasium der Provinzhauptstadt Czernowitz. Seine Jugend war von tragischen Ereignissen überschattet. Im Alter von zwölf Jahren wurde er durch den Selbstmord seiner Mutter, in dessen Vorgeschichte er sich verstrickt sah, seelisch stark traumatisiert. Fünf Jahre später, 1914, starb Reichs Vater an Tuberkulose, die er sich vermutlich in suizidaler Absicht  zugezogen hatte. Reich hatte nun die Leitung des Gutes zu übernehmen und schloss daneben seine Schulausbildung mit dem Abitur ab. Der Beginn des Weltkrieges zwang ihn zu dreieinhalb Jahren Dienst als Soldat. Anschließend ging Reich, inzwischen mittellos, nach Wien und studierte Medizin.
  
 
Reich wurde 1922 zum Dr. med. promoviert. Bereits 1920 war er Mitglied der [[Wiener Psychoanalytische Vereinigung|Wiener Psychoanalytischen Vereinigung]] (WPV) geworden. Seine Karriere dort war beachtlich. Er initiierte 1922 die Einrichtung eines psychoanalytischen Ambulatoriums, wurde 1924 Leiter des (Ausbildungs-) Technischen Seminars und begründete 1927 die sogenannte charakteranalytische (Behandlungs-)Technik. Gleichzeitig bemühte er sich um die theoretische Integration von Psychoanalyse und Marxismus und wurde einer der Begründer des sog. Freudomarxismus.
 
Reich wurde 1922 zum Dr. med. promoviert. Bereits 1920 war er Mitglied der [[Wiener Psychoanalytische Vereinigung|Wiener Psychoanalytischen Vereinigung]] (WPV) geworden. Seine Karriere dort war beachtlich. Er initiierte 1922 die Einrichtung eines psychoanalytischen Ambulatoriums, wurde 1924 Leiter des (Ausbildungs-) Technischen Seminars und begründete 1927 die sogenannte charakteranalytische (Behandlungs-)Technik. Gleichzeitig bemühte er sich um die theoretische Integration von Psychoanalyse und Marxismus und wurde einer der Begründer des sog. Freudomarxismus.
  
Seit den Ereignissen, die der Wiener [[Julidemonstration]] vom 15. Juli 1927 folgten, betätigte Reich sich auch offen politisch. Er trat in die [[SPÖ]] ein, gründete mit [[Marie Frischauf]] und anderen Ärzten die [[Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung]] und trat 1930 in die [[KPÖ]] bzw. – mit seinem Umzug nach Berlin – der KPD bei. Im Wiener [[Münster-Verlag]], den der Wiener Sowjetagent [[Arnold Deutsch]] unterhielt, erschienen 1930 Reichs populäre Aufklärungsschriften ''Sexualerregung und Sexualbefriedigung'' und ''Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral''.
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Seit den Ereignissen, die der Wiener [[Julidemonstration]] vom 15. Juli 1927 folgten, betätigte Reich sich auch offen politisch. Er trat in die [[SPÖ]] ein, gründete mit [[Marie Frischauf]] und anderen Ärzten die [[Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung]] und trat 1930 in die [[KPÖ]] bzw. – mit seinem Umzug nach Berlin – der KPD bei. Im Wiener [[Münster-Verlag]], den der Wiener Chemiker und Sowjetagent [[Arnold Deutsch]] unterhielt, erschienen 1930 Reichs populäre Aufklärungsschriften ''Sexualerregung und Sexualbefriedigung'' und ''Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral''.
  
Infolge seiner  sexualpolitischen Aktivitäten („Sexpol“) und seiner Analyse des Siegs des Nationalsozialismus über die Linke ("Die Massenpsychologie des Faschismus", 1933) wurde Reich jedoch 1933 aus der KPD ausgechlossen.  
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Infolge seiner  sexualpolitischen Aktivitäten ("Sexpol") und seiner Analyse des Siegs des Nationalsozialismus über die Linke (''Die Massenpsychologie des Faschismus'', 1933) wurde Reich jedoch 1933 aus der KPD ausgechlossen.  
  
Kurz darauf wurde Reich, aufgrund eines seit Jahren ("Die Funktion des Orgasmus", 1927) schwelenden grundsätzlichen theoretischen Konflikts mit [[Sigmund Freud]], auf dessen Betreiben - allerdings ohne Nennung und Diskussion der Gründe - zunächst aus der Berliner, 1934 auch aus der internationalen Organisation der Psychoanalyse ausgeschlossen.
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Kurz darauf wurde Reich, aufgrund eines seit Jahren (''Die Funktion des Orgasmus'', 1927) schwelenden grundsätzlichen theoretischen Konflikts mit [[Sigmund Freud]], auf dessen Betreiben - allerdings ohne Nennung und Diskussion der Gründe - zunächst aus der Berliner, 1934 auch aus der internationalen Organisation der Psychoanalyse ausgeschlossen.
  
Sofort nach der Machtübernahme der  Nationalsozialisten in Deutschland emigrierte Reich nach Dänemark. 1934 ging er nach Norwegen, wo er daran arbeitete, seine psychologische und soziologische Theorie zu auszubauen und naturwissenschaftlich zu untermauern: Zum einen entwickelte er seine aus der Freudschen Psychoanalyse entwickelte therapeutische Technik der "Charakteranalyse" weiter, indem er den gesamten Organismus – insbesondere die vegetativen Funktionen – einbezog, weshalb er später oft als „Vater der Körperpsychotherapien“ bezeichnet wurde. Zum anderen forschte er mit eigenen Experimenten auf (elektro-)physiologischem, biologischem und physikalischem Gebiet.
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Sofort nach der Machtübernahme der  Nationalsozialisten in Deutschland emigrierte Reich nach Dänemark. 1934 ging er nach Norwegen, wo er daran arbeitete, seine psychologische und soziologische Theorie zu auszubauen und naturwissenschaftlich zu untermauern: Zum einen entwickelte er seine aus der Freudschen Psychoanalyse entwickelte therapeutische Technik der "Charakteranalyse" weiter, indem er den gesamten Organismus – insbesondere die vegetativen Funktionen – einbezog, weshalb er später oft als "Vater der Körperpsychotherapien" bezeichnet wurde. Zum anderen forschte er mit eigenen Experimenten auf (elektro-)physiologischem, biologischem und physikalischem Gebiet.
  
 
Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges gelang Reich die Emigration in die USA, wo er die in Norwegen begonnenen Arbeiten fortsetzte und bald bekanntgab, eine meßbare "primordiale kosmische Energie", die er "Orgon" nannte, entdeckt zu haben. Er entwickelte verschiedene Geräte, denen er orgonenergetische Effekte zuschrieb, u. a. einen Orgonakkumulator. Da dieser auch zu Heilungszwecken eingesetzt wurde, kam Reich mit dem Gesetz in Konflikt. Ein Gericht ordnete die Vernichtung der Geräte und seiner sämtlichen Schriften an. Reich selbst wurde zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt, während derer er verstarb.
 
Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges gelang Reich die Emigration in die USA, wo er die in Norwegen begonnenen Arbeiten fortsetzte und bald bekanntgab, eine meßbare "primordiale kosmische Energie", die er "Orgon" nannte, entdeckt zu haben. Er entwickelte verschiedene Geräte, denen er orgonenergetische Effekte zuschrieb, u. a. einen Orgonakkumulator. Da dieser auch zu Heilungszwecken eingesetzt wurde, kam Reich mit dem Gesetz in Konflikt. Ein Gericht ordnete die Vernichtung der Geräte und seiner sämtlichen Schriften an. Reich selbst wurde zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt, während derer er verstarb.
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Eine gleichermaßen fehlgehende Rezeption Reichs begann Ende der 1970er Jahre, als  Reichs "Orgonomie" als "energetische" Lehre in esoterischen Zirkeln mit anderen Lehren amalgamiert wurde und dabei ihre Substanz verlor. Dasselbe geschah zeitlich parallel mit Reichs therapeutischen Konzepten.
 
Eine gleichermaßen fehlgehende Rezeption Reichs begann Ende der 1970er Jahre, als  Reichs "Orgonomie" als "energetische" Lehre in esoterischen Zirkeln mit anderen Lehren amalgamiert wurde und dabei ihre Substanz verlor. Dasselbe geschah zeitlich parallel mit Reichs therapeutischen Konzepten.
  
Durch diese popularisierenden und integrativen Rezeptionen Reichs in politischen, esoterischen und therapietechnischen Zusammenhängen geriet vollends in Vergessenheit, dass der Grund für Freuds administrative Kaltstellung und die folgende dauerhafte Verfemung Reichs nie klar benannt und nie thematisiert worden war. Freud, der sich selbst als Aufklärer begriff, sah in Reich, der wie er aufklärerische Ziele verfolgte, seinen Antipoden. Der fundamentale Gegensatz zwischen Freud und Reich  lässt sich mit den weithin geläufigen Freudschen Begriffen Es, Ich und Über-Ich pointiert benennen. Freud faßte sein Programm in die bekannte Sentenz: „Wo Es war, soll Ich werden.Das Über-Ich, das er für die Grundbedingung menschlicher Kulturfähigkeit hielt, blieb unangetastet. Reich hingegen sah im Über-Ich ein Hindernis auf dem Weg zu einer aufgeklärten Kultur. In Freudscher Terminologie lautete sein Programm: „Wo Über-Ich war, soll Ich werden“. Die Bildung des Über-Ich bei der Enkulturation des Kindes sah Reich "funktionell identisch" mit der Entstehung einer psychisch und somatisch objektivierbaren "charakterlichen Panzerung", gespeist von aufgestauter "Energie" infolge "orgastischer Impotenz". Nach Reich ist das introjizierte Über-Ich, obwohl es vom Individuum als sein Ureigenstes (Identität, Werthaltungen) empfunden wird, der Inbegriff von Heteronomie, diejenige Instanz, die den wirklichen "Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit" verhindert. Reichs Konzept zur theoretischen Bestimmung und praktischen Herbeiführung genuiner Autonomie der Individuen ("charakterliche Selbststeuerung") liegt vielen seiner Schriften zugrunde, wurde aber nie monographisch ausgearbeitet.
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Durch diese popularisierenden und integrativen Rezeptionen Reichs in politischen, esoterischen und therapietechnischen Zusammenhängen geriet vollends in Vergessenheit, dass der Grund für Freuds administrative Kaltstellung und die folgende dauerhafte Verfemung Reichs nie klar benannt und nie thematisiert worden war. Freud, der sich selbst als Aufklärer begriff, sah in Reich, der wie er aufklärerische Ziele verfolgte, seinen Antipoden. Der fundamentale Gegensatz zwischen Freud und Reich  lässt sich mit den weithin geläufigen Freudschen Begriffen Es, Ich und Über-Ich pointiert benennen. Freud faßte sein Programm in die bekannte Sentenz: "Wo Es war, soll Ich werden." Das Über-Ich, das er für die Grundbedingung menschlicher Kulturfähigkeit hielt, blieb unangetastet. Reich hingegen sah im Über-Ich ein Hindernis auf dem Weg zu einer aufgeklärten Kultur. In Freudscher Terminologie lautete sein Programm: "Wo Über-Ich war, soll Ich werden". Die Bildung des Über-Ich bei der Enkulturation des Kindes sah Reich "funktionell identisch" mit der Entstehung einer psychisch und somatisch objektivierbaren "charakterlichen Panzerung", gespeist von aufgestauter "Energie" infolge "orgastischer Impotenz". Nach Reich ist das introjizierte Über-Ich, obwohl es vom Individuum als sein Ureigenstes (Identität, Werthaltungen) empfunden wird, der Inbegriff von Heteronomie, diejenige Instanz, die den wirklichen "Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit" verhindert. Reichs Konzept zur theoretischen Bestimmung und praktischen Herbeiführung genuiner Autonomie der Individuen ("charakterliche Selbststeuerung") liegt vielen seiner Schriften zugrunde, wurde aber nie monographisch ausgearbeitet.

Version vom 13. September 2014, 23:28 Uhr

Daten zur Person
Personenname Reich, Wilhelm
Abweichende Namensform
Titel Dr. med.
Geschlecht männlich
PageID 33647
GND
Wikidata
Geburtsdatum 24. März 1897
Geburtsort Dobzau (Dobrzanica)
Sterbedatum 3. November 1957
Sterbeort Lewisburg, PA, USA
Beruf Arzt, Psychoanalytiker
Parteizugehörigkeit SPÖ, KPÖ, KPD
Ereignis
Nachlass/Vorlass Countway Library, Harvard, Boston, MA, USA
Objektbezug
Quelle
Export RDF-Export (Resource Description Framework) RDF
Recherche
Letzte Änderung am 13.09.2014 durch DYN.b a l
Begräbnisdatum
Friedhof
Grabstelle

Es wurden noch keine Adressen zu dieser Person erfasst!

Familiäre Beziehung
Berufliche Beziehung
Beziehung, Bekanntschaft, Freundschaft

Reich, Wilhelm (Pseudonym Ernst Parell)

Reich stammte aus der Bukowina (Österreich-Ungarn), wo seine Familie ein Landgut bewirtschaftete. Seine Eltern hatten sich aus der jüdischen Tradition ihrer Vorfahren gelöst und der deutschen Kultur assimiliert, ohne jedoch einer christlichen Kirche beigetreten zu sein. Reich wurde zunächst durch Privatlehrer unterrichtet und besuchte später das Gymnasium der Provinzhauptstadt Czernowitz. Seine Jugend war von tragischen Ereignissen überschattet. Im Alter von zwölf Jahren wurde er durch den Selbstmord seiner Mutter, in dessen Vorgeschichte er sich verstrickt sah, seelisch stark traumatisiert. Fünf Jahre später, 1914, starb Reichs Vater an Tuberkulose, die er sich vermutlich in suizidaler Absicht zugezogen hatte. Reich hatte nun die Leitung des Gutes zu übernehmen und schloss daneben seine Schulausbildung mit dem Abitur ab. Der Beginn des Weltkrieges zwang ihn zu dreieinhalb Jahren Dienst als Soldat. Anschließend ging Reich, inzwischen mittellos, nach Wien und studierte Medizin.

Reich wurde 1922 zum Dr. med. promoviert. Bereits 1920 war er Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) geworden. Seine Karriere dort war beachtlich. Er initiierte 1922 die Einrichtung eines psychoanalytischen Ambulatoriums, wurde 1924 Leiter des (Ausbildungs-) Technischen Seminars und begründete 1927 die sogenannte charakteranalytische (Behandlungs-)Technik. Gleichzeitig bemühte er sich um die theoretische Integration von Psychoanalyse und Marxismus und wurde einer der Begründer des sog. Freudomarxismus.

Seit den Ereignissen, die der Wiener Julidemonstration vom 15. Juli 1927 folgten, betätigte Reich sich auch offen politisch. Er trat in die SPÖ ein, gründete mit Marie Frischauf und anderen Ärzten die Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung und trat 1930 in die KPÖ bzw. – mit seinem Umzug nach Berlin – der KPD bei. Im Wiener Münster-Verlag, den der Wiener Chemiker und Sowjetagent Arnold Deutsch unterhielt, erschienen 1930 Reichs populäre Aufklärungsschriften Sexualerregung und Sexualbefriedigung und Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral.

Infolge seiner sexualpolitischen Aktivitäten ("Sexpol") und seiner Analyse des Siegs des Nationalsozialismus über die Linke (Die Massenpsychologie des Faschismus, 1933) wurde Reich jedoch 1933 aus der KPD ausgechlossen.

Kurz darauf wurde Reich, aufgrund eines seit Jahren (Die Funktion des Orgasmus, 1927) schwelenden grundsätzlichen theoretischen Konflikts mit Sigmund Freud, auf dessen Betreiben - allerdings ohne Nennung und Diskussion der Gründe - zunächst aus der Berliner, 1934 auch aus der internationalen Organisation der Psychoanalyse ausgeschlossen.

Sofort nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland emigrierte Reich nach Dänemark. 1934 ging er nach Norwegen, wo er daran arbeitete, seine psychologische und soziologische Theorie zu auszubauen und naturwissenschaftlich zu untermauern: Zum einen entwickelte er seine aus der Freudschen Psychoanalyse entwickelte therapeutische Technik der "Charakteranalyse" weiter, indem er den gesamten Organismus – insbesondere die vegetativen Funktionen – einbezog, weshalb er später oft als "Vater der Körperpsychotherapien" bezeichnet wurde. Zum anderen forschte er mit eigenen Experimenten auf (elektro-)physiologischem, biologischem und physikalischem Gebiet.

Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges gelang Reich die Emigration in die USA, wo er die in Norwegen begonnenen Arbeiten fortsetzte und bald bekanntgab, eine meßbare "primordiale kosmische Energie", die er "Orgon" nannte, entdeckt zu haben. Er entwickelte verschiedene Geräte, denen er orgonenergetische Effekte zuschrieb, u. a. einen Orgonakkumulator. Da dieser auch zu Heilungszwecken eingesetzt wurde, kam Reich mit dem Gesetz in Konflikt. Ein Gericht ordnete die Vernichtung der Geräte und seiner sämtlichen Schriften an. Reich selbst wurde zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt, während derer er verstarb.

Reichs Theorien blieben infolge seiner Stigmatisierung durch Freud und die Psychoanalytiker jahrzehntelang undiskutiert. Erst durch die Studentenbewegung der 60er Jahre wurde er postum weithin bekannt, als Künder einer "Sexuellen Revolution" (so einer seiner Buchtitel). Seine Vision war allerdings eine ganz andere als die bloße Liberalisierung, die dann in den westlichen Ländern vollzogen wurde und andere Leitfiguren hervorbrachte.

Eine gleichermaßen fehlgehende Rezeption Reichs begann Ende der 1970er Jahre, als Reichs "Orgonomie" als "energetische" Lehre in esoterischen Zirkeln mit anderen Lehren amalgamiert wurde und dabei ihre Substanz verlor. Dasselbe geschah zeitlich parallel mit Reichs therapeutischen Konzepten.

Durch diese popularisierenden und integrativen Rezeptionen Reichs in politischen, esoterischen und therapietechnischen Zusammenhängen geriet vollends in Vergessenheit, dass der Grund für Freuds administrative Kaltstellung und die folgende dauerhafte Verfemung Reichs nie klar benannt und nie thematisiert worden war. Freud, der sich selbst als Aufklärer begriff, sah in Reich, der wie er aufklärerische Ziele verfolgte, seinen Antipoden. Der fundamentale Gegensatz zwischen Freud und Reich lässt sich mit den weithin geläufigen Freudschen Begriffen Es, Ich und Über-Ich pointiert benennen. Freud faßte sein Programm in die bekannte Sentenz: "Wo Es war, soll Ich werden." Das Über-Ich, das er für die Grundbedingung menschlicher Kulturfähigkeit hielt, blieb unangetastet. Reich hingegen sah im Über-Ich ein Hindernis auf dem Weg zu einer aufgeklärten Kultur. In Freudscher Terminologie lautete sein Programm: "Wo Über-Ich war, soll Ich werden". Die Bildung des Über-Ich bei der Enkulturation des Kindes sah Reich "funktionell identisch" mit der Entstehung einer psychisch und somatisch objektivierbaren "charakterlichen Panzerung", gespeist von aufgestauter "Energie" infolge "orgastischer Impotenz". Nach Reich ist das introjizierte Über-Ich, obwohl es vom Individuum als sein Ureigenstes (Identität, Werthaltungen) empfunden wird, der Inbegriff von Heteronomie, diejenige Instanz, die den wirklichen "Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit" verhindert. Reichs Konzept zur theoretischen Bestimmung und praktischen Herbeiführung genuiner Autonomie der Individuen ("charakterliche Selbststeuerung") liegt vielen seiner Schriften zugrunde, wurde aber nie monographisch ausgearbeitet.