Tilly Spiegel

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Daten zur Person
Personenname Spiegel, Tilly
Abweichende Namensform Spiegel, Ottilie
Titel
Geschlecht weiblich
PageID 361250
GND 1202456960
Wikidata Q19969790
Geburtsdatum 10. Dezember 1906
Geburtsort Nowosielitza / Bukowina
Sterbedatum 15. Juli 1988
Sterbeort Wien 4066009-6
Beruf Politikerin, Journalistin, Widerstandskämpferin
Parteizugehörigkeit KPÖ
Ereignis
Nachlass/Vorlass Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes
Objektbezug
Quelle Gedenktage
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Letzte Änderung am 16.08.2023 durch WIEN1.lanm09p15
Begräbnisdatum
Friedhof
Grabstelle

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Familiäre Beziehung
Berufliche Beziehung
Beziehung, Bekanntschaft, Freundschaft

  • Goldenes Verdienstzeichen der Republik Österreich (Verleihung: 1975)


Tilly Spiegel, * 10. Dezember 1906 Nowosielitza (Bukowina), † 15. Juli 1988 Wien, Journalistin, Politikerin, Widerstandskämpferin.

Biografie

Ottilie "Tilly" Sali Spiegel wurde als älteste Tochter von Karl Chaim und Hilda Spiegel (geb. Gelbard) in Nowosielitza in der Bukowina geboren. Viele der dort lebenden Menschen waren jüdischen Glaubens, so wie Spiegels Eltern, die sie in einem lebensgeschichtlichen Interview als "durchschnittlich religiöse Juden" beschrieb. Sie wurden beide im Holocaust ermordet.

1918 zog die Familie – Spiegel hatte fünf Geschwister – nach den verheerenden Verwüstungen, die der Erste Weltkrieg in ihrer Heimat angerichtet hatte, nach Wien-Ottakring. Ihren Bildungshunger versuchte Spiegel unter anderem in der Volkshochschule Ottakring zu stillen. Im "Volksheim" traf Tilly Spiegel 1926 oder 1927 auf Mitglieder des Kommunistischen Jugendverbands (KJV), die dort Veranstaltungen organisierten. Seit Anfang der 1930er-Jahre nahm sie eine führende Rolle innerhalb der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) ein. Unklar ist, wann sie nominell der KPÖ beitrat, die Verbindungen zwischen Mutterpartei und Jugendverband waren ohnehin eng. Spiegel war zunächst Bezirksleiterin und ab 1933 wurde sie in die Stadtleitung kooptiert.

Eine erste Zäsur in der politischen Arbeit stellte die Einrichtung der Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur ab 1933 dar. Das Regime dehnte die Überwachungs- und Ahndungsbefugnisse der Sicherheitsbehörden aus, beschnitt die Unabhängigkeit der Justiz und führte das System der Doppelbestrafung und "Anhaltung" ein. Die KPÖ wurde am 26. Mai 1933 verboten. Bald geriet auch Spiegel aufgrund des Verteilens kommunistischer Schriften ins Visier. Sie wurde seitens der Polizei 1935 zu acht Monaten Haft wegen Betätigung für die KPÖ sowie "Verbreitung staatsfeindlicher Druckwerke" verurteilt. Im März 1936 stand das zweite Urteil gegen Spiegel fest. Vom Bezirkspolizeikommissariat Innere Stadt bereits mit acht Monaten Arrest bestraft, kam nun eine Verurteilung wegen Verbrechens des Hochverrats und Störung der öffentlichen Ruhe seitens des Landesgerichts für Strafsachen Wien I hinzu – Spiegel musste 14 Monate in den "schweren Kerker". Anschließend wurde sie – obwohl die Strafe verbüßt war – noch einige Monate in einem Polizeigefängnis "angehalten". Spiegels Verurteilung durch sowohl Polizei als auch Landesgericht zeugt vom zentralen Mechanismus der Verfolgung der politischen Opposition in der Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur, jenem der Doppel- und Mehrfachbestrafung.

Nach ihrer Enthaftung ging Spiegel nach Paris, wo sie sich einige Monate als Turnlehrerin durchschlug. Kurze Zeit später kehrte sie aber nach Österreich zurück, genauer in die Grenzregion zwischen Vorarlberg und der Schweiz, um den Grenzübertritt von Freiwilligen, die auf republikanischer Seite im Spanischen Bürgerkrieg kämpfen wollten, zu organisieren. Spiegel betreute unter ihrem Decknamen "Paula" gemeinsam mit Josef Foscht, "dem Basler", das Spanien-Netzwerk. Sowohl Österreich als auch die Schweiz verfolgten jegliches Engagement für die Spanische Republik strafrechtlich, weswegen sie festgenommen wurden. Nach ihrer Verhaftung im Dezember 1937 blieb Spiegel bis Mai 1938 in St. Gallen inhaftiert. Dass sie in der Schweiz und nicht in Vorarlberg inhaftiert worden war, rettete ihr wahrscheinlich das Leben, denn in der Zwischenzeit hatte der nationalsozialistische "Anschluss" in Österreich im März 1938 die politischen Verhältnisse grundlegend geändert. Da Spiegel Kommunistin war und für das NS-Regime als Jüdin galt, stand sie im Visier der Behörden. Sie flüchtete daher, wie tausende andere aus politischen und "rassischen" Gründen Vertriebene, nach Frankreich. Hier engagierte sie sich zunächst in der Flüchtlingshilfe, etwa im Cercle Culturel Autrichien, der im November 1938 mit dem Ziel gegründet wurde, Österreichs Kultur und seine "geistige Atmosphäre auch in der Fremde zu pflegen und zu erhalten". Leiterin war die Kommunistin Marie Pappenheim-Frischauf. In Paris lernte Spiegel auch Franz Marek kennen, mit dem sie 25 Jahre lang liiert blieb. Marek war seit April 1938 in Frankreich, wo er im Secours populaire aktiv war, einer französischen Hilfsorganisation, die sich der Betreuung von AntifaschistInnen verschrieben hatte. Zudem arbeitete er in der Redaktion der Nouvelles d’Autriche.

Die Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts am 23. August 1939 bedeutete zunächst eine europaweite Zäsur für kommunistische Parteien. Als am 1. September 1939 NS-Deutschland durch den Angriff auf Polen den Zweiten Weltkrieg auslöste, erklärten Großbritannien und Frankreich wiederum dem Deutschen Reich den Krieg. Während sich die politische Lage zuspitzte, stieg Spiegel innerhalb der Reihen der KPÖ zur höchsten Position auf, die sie jemals einnehmen sollte. Unmittelbar nach Kriegsbeginn wurde Spiegel zur "politischen Verantwortlichen" für die Parteiorganisation in Frankreich ernannt – eine Funktion in welcher sie bis Juni 1940, bis zum Einmarsch der Wehrmacht in Frankreich, verblieb. Erst der deutsche Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, der offensichtliche Bruch des Nichtangriffspakts, der KommunistInnen europaweit zum Nichtstun gezwungen hatte, bedeutete für Spiegel den Beginn der organisierten Widerstandstätigkeit in Frankreich.

Im Zweiten Weltkrieg wurde die politische Linie der österreichischen KommunistInnen mit der Main d’œuvre immigrée (MOI), der an ausländische ArbeiterInnen gerichteten Vorfeldorganisation der französischen kommunistischen Partei (PCF), abgestimmt. Die deutschsprachigen KommunistInnen organisierten unter Anleitung von MOI und PCF in der Folge den Travail allemand (TA), der zum Ziel hatte, Informationen von Wehrmachtssoldaten zu erhalten oder diese durch gezielte Agitation zu einem Bruch mit dem NS-Regime zu bewegen. Die Organisation des TA war nach Regionen und Gebieten aufgebaut, die meist mit den französischen Departement-Grenzen übereinstimmten. Die einzelnen "Sektionen" arbeiteten selbstständig innerhalb dieser Gebiete, standen aber über die interregionalen InstrukteurInnen, "Inter", mit den jeweils für die Region Verantwortlichen in engem Kontakt. Im Jänner 1942 wurde Spiegel "Inter": Die "Inter" organisierten die Materialherstellung, hielten die Verbindung zu den "Eingebauten", zu den in diverse deutsche Dienststellen Eingeschleusten, zu anderen "Inter" sowie zu den Leitungen in Brüssel, Paris und Lyon aufrecht, arrangierten Verstecke von Deserteuren oder den Kontakt mit dem französischen Untergrund. Ab 1943 brachten den TA Verhaftungswellen in Bedrängnis. Am 11. August 1944 traf es auch Tilly Spiegel. Sie wurde gemeinsam mit Franz Marek und einer weiteren Kommunistin, Anna Peczenik, durch Gestapo-Beamte aufgegriffen und ins Militärgefängnis Fresnes bei Paris überstellt. Über Spiegel und Marek wurden Todesurteile verhängt, nur der weitere Kriegsverlauf – die Befreiung Paris und die militärische Niederlage der Wehrmacht – verhinderte deren Vollstreckung.

Nach 1945 ging Spiegel nach Wien zurück, hatte aber nie wieder eine führende Position in der KPÖ inne. Sie nahm zwischen 1945 und 1953 wechselnde Aufgabengebiete innerhalb der Partei ein. Spiegel, die mit großer Wahrscheinlichkeit schon in der Ersten Republik Beiträge für die kommunistische Presse verfasst hatte, schrieb nach 1945 nun unter Klarnamen Artikel für die (Österreichische) Volksstimme und Weg und Ziel. Von Oktober 1953 bis Ende 1955 arbeitete sie als Redakteurin bei Radio Wien. Nach der Niederschlagung des "Prager Frühlings" durch die Sowjetunion und Truppen des Warschauer Paktes beendete Spiegel ihre KPÖ-Mitgliedschaft wahrscheinlich 1970. Bereits in den 1960er-Jahren hatte ein kritischer LeserInnenbrief in "Weg und Ziel" zum Ausdruck gebracht, dass sie mit der Struktur des Parteiapparats unzufrieden war. In dieser Zeit ging auch Spiegels und Mareks Beziehung auseinander. Nach der tiefgreifenden Parteikrise der KPÖ widmete sie ihr ganzes Engagement dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), wo sie seit Anfang der 1960er-Jahre als eine der ersten ehrenamtlichen MitarbeiterInnen tätig war. Unter anderem für ihre Arbeit im DÖW erhielt sie 1975 das Goldene Verdienstzeichen der Republik Österreich. Tilly Spiegel verstarb am 15. Juli 1988 in Wien.

Werke

  • Tilly Spiegel: Frauen und Mädchen im österreichischen Widerstand. Wien [u.a.]: Europa-Verlag 1967
  • Tilly Spiegel: Österreicher in der französischen und belgischen Résistance, Wien. Wien [u.a.]: Europa-Verlag 1969

Literatur

  • Ina Markova: Tilly Spiegel. Eine politische Biografie. Wien: nap 2019
  • Max Graf/Sarah Knoll [Hg.]: Franz Marek. Lebenserinnerungen und Schlüsseltexte. Wien: Mandelbaum 2017
  • Helmut Kopetzky: Die andere Front. Europäische Frauen in Krieg und Widerstand 1939 bis 1945. Köln: Pahl-Rugenstein 1983
  • Die Diskussion in der KP Österreichs. Leserbrief aus "Weg und Ziel", von Tilly Spiegel. In: Selbstkritik des Kommunismus. Texte der Opposition. Hg. von Günther Hillmann. Reinbek bei Hamburg: rororo 1967, S. 217–220


Tilly Spiegel im Katalog der Wienbibliothek im Rathaus.