Strafprozess Adolf Loos

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Strafakt von Adolf Loos, 1928
Daten zum Eintrag
Datum von 1928
Datum bis 1928
Objektbezug Adolf Loos (Portal)
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Letzte Änderung am 10.11.2023 durch DYN.krabina
Bildname Adolf Loos Aktendeckel Vr 5707 28.jpg
Bildunterschrift Strafakt von Adolf Loos, 1928

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Zeitungsausschnitt zum Prozess aus dem Teilnachlass Adolf Loos, 1928
Kokoschkas Portraitskizze von Adolf Loos (1916) als Illustration eines Presseberichtes zum Prozess, 1928
Werbeanzeige von Adolf Loos für die Aktion "Wiener Kinder nach Frankreich" in der Wiener Allgemeinen Zeitung, 12. Juli 1927
Brief von Josef Eisnecker vom 14. August 1928 an Adolf Loos mit der Bitte, seine Tochter für den Frankreichaufenthalt vorzumerken
Der Prozess auf der Titelseite einer Tageszeitung, 1928
Brief von Stefanie Jardin aus Corbeil vom 14. Dezember 1927 an Adolf Loos als Antwort auf seine Annonce in "Le Journal"
Der Name Adolf Loos als musikalisches Anagramm in einer Skizze zu Alban Bergs Oper "Lulu", 1928

1928 wurde am Landesgericht für Strafsachen Wien I ein Strafverfahren gegen Adolf Loos wegen des Verdachts der Schändung sowie Verführung zur Unzucht mit Minderjährigen durchgeführt. Loos wurde in einem von drei Anklagepunkten für schuldig befunden und zu vier Monaten bedingtem Arrest verurteilt.

Quellenlage

Der Strafakt, dessen Existenz bekannt war, galt lange Zeit als verschollen. 2015 wurde er im Zuge einer Wohnungsauflösung aufgefunden und an das Wiener Stadt- und Landesarchiv zurückgegeben. Seither lässt sich das unter dem Aktenzeichen Vr 5707/28 eingereihte Strafverfahren in juristischer Hinsicht lückenlos rekonstruieren. Die im Akt enthaltenen gerichtspsychologischen Gutachten, umfangreichen Zeugenvernehmungsprotokolle sowie die Aussagen des Angeklagten sind abseits der rechtlichen Aspekte von erheblichem historischen Dokumentationswert. Bis zum Auftauchen des 373 Seiten starken Strafaktes fußten Berichte in einschlägigen Publikationen auf historischen Pressemeldungen oder auch auf den verschriftlichten Lebenserinnerungen von Elsie Altmann-Loos, der zweiten Ehefrau des Architekten.

2008 erwarb die Wienbibliothek im Rathaus eine Dokumentesammlung zu Adolf Loos, in welcher sich Quellen zur Vorgeschichte des "Falles Loos" befinden. Das Material, welche die Ernsthaftigkeit der von Loos im Laufe seiner Verteidigung immer wieder beschworenen Aktion "Wiener Kinder nach Frankreich" belegt, wurde 2018 in einer Publikation der Wienbibliothek vorgestellt.[1]

Vorgeschichte und Prozessverlauf

Ende August 1928 erstattete auf einem Polizeikommissariat in Währing eine Frau, die ihre Identität geheim halten wollte, Anzeige gegen den Architekten. Die daraufhin eingeholten Untersuchungen ergaben, dass Adolf Loos in seiner Wohnung im Haus Bösendorferstraße 3 drei Mädchen zwischen acht und elf Jahren empfangen habe, um sie zu zeichnen.

Loos hatte im Umfeld der Berufsmodellbörse an der Akademie der bildenden Künste nach Mädchen gesucht, die ihm für die Anfertigung von Aktzeichnungen zur Verfügung gestellt würden. Ein als Berufsmodell arbeitender Frührentner aus Währing führte daraufhin seine 10-jährige Tochter und bei einem weiteren Besuch auch eine Freundin seiner Tochter zu Loos. Die Kinder nahmen bei späteren Besuchen, die diese unbegleitet machen durften, da der Vater, so seine Zeugenaussage, keinerlei Befürchtungen um sein Kind und dessen Freundin hatte, noch ein anderes minderjähriges Mädchen mit zu Loos.

Als die Kinder bei den polizeilichen Vernehmungen angaben, Adolf Loos hätte während des Aktzeichnens sexuelle Handlungen an ihnen vorgenommen, wurde ein Haftbefehl erlassen und der Beschuldigte am 4. September in Untersuchungshaft genommen. Er kam jedoch nach wenigen Tagen wieder auf freien Fuß, nachdem Personen aus seinem Freundeskreis die Kautionssumme von 20.000 Schilling bezahlt hatten. Loos‘ frühere Bauherren Paul Khuner, Hans Moller, Erich Mandl und Friedrich Wolff hatten jeweils 5.000 Schilling Kaution erlegt.

Die Wiener Polizei war zu dieser Zeit besonders sensibilisiert, da sie vermehrt mit Fällen mutmaßlichen oder erwiesenen Mädchenhandels befasst war und auch der Völkerbund hatte sich des international brisanten Themas angenommen und durch seine Berichte die Öffentlichkeit alarmiert.[2] [3] Im Strafprozessakt findet sich beispielsweise eine beim Polizeikommissariat Prater aufgenommene Vorerhebung, aus welcher hervorgeht, dass ein Mann bei einem Ringelspiel minderjährige Mädchen anspricht und ihnen Geld gibt. Bevor dieser Mann durch eine Visitenkarte, die eines der Mädchen bei sich hatte, als Adolf Loos identifiziert wurde, vermutete die Polizei einen Zusammenhang mit Mädchenhandel.

Die Rolle der Presse

Noch vor Beginn des eigentlichen Strafprozesses erregte sich die Presse am „Fall Loos“, der eine hitzig öffentlich geführte Debatte sowohl in das Lager der modern-fortschrittlich Denkenden als auch in die konservativen Kreise trug. Durch eine Äußerung von Karl Kraus nahm der Fall auch politische Züge an: Der Herausgeber der Der Fackel attackierte in Zusammenhang mit der Julirevolte und dem Justizpalastbrand ein Jahr zuvor den Wiener Polizeipräsident Johann Schober auf das heftigste. Die polizeiliche Verfolgung von Adolf Loos wegen eines vermeintlichen Sittlichkeitsdelikts deutete Kraus als Racheakt.

Die Zeitungen überboten sich förmlich in ihren Vermutungen, vermeintlichen Beweisen und Gegenbeweisen für Loos‘ Schuld oder Unschuld. Die Debatten lagen fernab des sachlichen Kerns und hegten entweder die Absicht, den Architekten, der sich durch seine kritischen Äußerungen über Wien und die Wiener Lebensart viele Feinde geschaffen hatte, noch mehr zu diffamieren oder diesen als Künstler von jeglicher moralischen Verantwortung freizusprechen.[4]

Alfred Polgar fasste wenige Tage nach Loos‘ Verhaftung die Stimmung in Wien mit den Worten zusammen: "Als Wien erfuhr, Architekt Loos sei unter jenem Verdacht in Arrest gesteckt worden, durchlief die Stadt ein sonderbares Brausen: es war das Geräusch des Wassers, das den Wienern im Mund zusammenlief." [5]

Die Gerichtsverhandlung

Die Hauptverhandlung war für den 30. November und den 1. Dezember 1928 im Wiener Landesgericht für Strafsachen I. als Schöffenverfahren festgesetzt und fand auf Antrag der Staatsanwaltschaft unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Adolf Loos hatte aus gesundheitlichen Gründen große Mühe, dem Prozessverlauf folgen und in zusammenhängenden Sätzen sprechen zu können:[6] Sowohl die Schwerhörigkeit als auch die schlechte nervliche Verfassung beeinträchtigten den Gang der Verhandlung, es wurde jedoch von der Verteidigung kein Beschluss über eine Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten beantragt.

Loos wurde von den Rechtsanwälten Gustav Scheu, Hans Stieglandt und Valentin Rosenfeld vertreten. Gustav Scheu und Valentin Rosenfeld waren mit Loos eng befreundet und ehemalige Bauherren des Architekten. Die Staatsanwaltschaft erhob konkret Anklage wegen § 128 StGB. (Verbrechen der vollbrachten Schändung; Verbrechen der versuchten Schändung) sowie § 132/III (Verbrechen der vollbrachten Verführung zur Unzucht, Verbrechen der versuchten Verführung zur Unzucht) Trotzdem der Prozess nur auf zwei Tage angesetzt war, wurden mehrere Gerichtspsychologen als Gutachter bestellt, darunter Erwin Lazar und Hermann Frischauf. Loos dritter Verteidiger Valentin Rosenfeld war durch seine engen Beziehungen zu Anna Freud und der Psychoanalyse für die Interpretation der eingebrachten pädiatrischen Fachgutachten von besonderer Bedeutung. Als Vertrauensmänner wohnten zahlreiche prominente Personen aus dem Schriftstellermilieu dem Prozess bei: Raoul Auernheimer, Arthur Rundt, Hans Margulies, sowie Arthur Glaser als Gerichtssaalkorrespondent. Am zweiten Prozesstag erschien Karl Kraus, der vom Gericht als Entlastungszeuge abgelehnt worden war, als Vertrauensmann.

Die vom Gericht eingeforderten Berichte der Wiener Jugendgerichtshilfe schildern das familiäre Umfeld der Kinder, die Loos belasteten. Sie lassen erkennen, dass die Kinder aus stark zerrütteten Verhältnissen stammten, von den Eltern zum Geldverdienen angehalten wurden und außerhalb der Schul- oder Hortzeiten sich unbeaufsichtigt auf der Straße oder in Parkanlagen aufhielten. Eines der Mädchen stammte aus einer Familie, in der tagsüber noch Bettgeher aufgenommen wurden, mit denen die Mädchen alleine in der Wohnung blieben. Es wurden Zeugen namhaft gemacht, welche die Wohnsituation dieses Kindes als besonders bedenklich schilderten. Das betroffene Mädchen gab an, sexuelle Kontakte mit Männern gegen Bezahlung gehabt zu haben. Loos' Verteidigung bezog die von den Gutachtern vorgelegten Berichte über die teilweise katastrophalen sozialen Verhältnisse der Kinder sowie die gutachterlich erhobenen Tendenzen eines der Mädchen, fortgesetzt zu lügen, in ihre Strategie ein, die darauf abzielte, diesen Kindern die Glaubwürdigkeit vor Gericht abzusprechen.

Adolf Loos selbst brachte zu seiner Verteidigung vor, nach "geeigneten" Kindern für eine von ihm beabsichtigte Ferienaktion gesucht zu haben. Im Rahmen dieser Ferienaktion wollte er Wiener Kinder nach Frankreich bringen um ihnen bei Gastfamilien französische Sprache und Kultur zu vermitteln. Die Ernsthaftigkeit dieser Absicht belegen Korrespondenzen mit Familien in Wien sowie in Frankreich, die sich in einer Dokumentesammlung der Wienbibliothek im Rathaus befinden. Die Aktion sollte, so Loos, über die mit ihm eng befreundete Reformpädagogin Eugenie Schwarzwald abgewickelt werden, welcher er schon bei früheren Gelegenheiten arme, jedoch begabte Kinder für einen Freiplatz in ihrer Schule vermittelt hatte. Eugenie Schwarzwald bestritt zwar bei der polizeilichen Einvernahme, etwas von dieser Aktion gewusst zu haben, räumte jedoch als Zeugin in der Hauptverhandlung ein, dass Loos seine Pläne so knapp vor Ende des Sommersemesters 1928 vorstellte, dass diese nicht mehr in Betracht kamen. Loos‘ philanthropische Absicht belegte in diesem Zusammenhang auch der Umstand, dass der Architekt gemeinsam mit Eugenie Schwarzwald zu den Gründern der Stiftung "Haus in der Sonne" gehörte, welche unter anderem auch Frankreichaufenthalte vermitteln sollte.[7]

Loos wurde besonders durch den Umstand belastet, dass er, obwohl er sich in seiner Selbstsicht nie als Künstler betrachtet hatte, die Kinder als Aktmodelle in seine Wohnung kommen ließ und Zeichnungen anfertigte, welche die Kinder nackt und in obszönen Posen zeigten. Er habe die Kinder nackt gezeichnet, argumentierte Loos, um sowohl ihren gesundheitlichen als auch sittlichen Zustand zu prüfen, da er nur gesunde und "unverdorbene" Kinder nach Frankreich bringen wolle. Loos hatte, wie aus der Zeugenvernehmung vom 27. September hervorgeht, auch den mit ihm befreundeten Arzt Dr. Erwin Spiegl um die Vornahme medizinischer Untersuchungen gebeten, welche dieser in Loos‘ Wohnung auch durchgeführt hatte.

Urteil und Strafbemessung

Das Urteil vom 1. Dezember 1928 lautete auf Freispruch von der Anklage des Verbrechens der Schändung nach § 128 StGB sowie auf Freispruch von der Anklage des Verbrechens der vollbrachten Verführung zur Unzucht nach § 132/III StGB. Schuldig gesprochen wurde er des Verbrechens der versuchten Verführung zur Unzucht nach § 132/III StGB „begangen dadurch, dass er zur selben Zeit am gleichen Orte die ihm zur Aufsicht anvertrauten Mädchen […] zur Begehung und Duldung unzüchtiger Handlungen verleitete, indem er sie veranlasste, als Modelle unzüchtige Stellungen einzunehmen und sich in diesen zeichnen zu lassen.“[8] Adolf Loos nahm das Urteil an und verzichtete auf Berufung. Die Strafe des strengen viermonatigen Arrests wurde auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Diese bedingte Freiheitsstrafe war verbunden mit einer sicherheitsbehördlichen Schutzaufsicht, welche als eine Art Bewährungshilfe den Verurteilten vor neuerlicher Straffälligkeit bewahren sollte. Die Strafe war mit Wirksamkeit vom 4. Dezember 1932 verbüßt, da Adolf Loos keine gegen die Bewährungsauflagen verstoßenden Handlungen gesetzt hatte.

Rezeption

Die früheste Rezeption des "Falles Loos" ist in Alban Bergs Oper "Lulu" zu erkennen. Berg, der just im Jahr des Loos-Prozesses an diesem Stoff zu arbeiten begann und den eine langjährige Freundschaft mit Loos verband, verlieh dem dämonischen Dr. Schön die Züge des Architekten, der Name Adolf Loos taucht in Form eines Anagramms in den Noten auf.[9]

Elsie Altmann-Loos nahm das Ereignis in ihre Lebenserinnerungen "Mein Leben mit Adolf Loos" auf, die erst ein halbes Jahrhundert nach dem Skandal publiziert wurden. Ihren Schilderungen nach sei Loos von den Eltern der Kinder, die mit dem Hausmeisterehepaar in Loos‘ Wohnhaus befreundet waren, mit einer Anzeige gedroht worden, falls er nicht zahle, da Loos die Kinder baden ließ und sie nackt zeichnete. [10]

2012 wurde das Ehrengrab von Adolf Loos auf dem Wiener Zentralfriedhof in ein historisches Grab umgewidmet. Die Publikation des Prozesses aufgrund des aufgetauchten Strafaktes durch den US-amerikanischen Architekturhistoriker Christopher Long in seinem Band "Loos on Trial" (dt. "Der Fall Loos") im Jahr 2015 lenkte weitere Aufmerksamkeit auf den Gegenstand. Die deutschsprachige Übersetzung wurde 2015 in den Loos-Räumen der Wienbibliothek im Rathaus präsentiert.

Quellen

Literatur

  • Christopher Long: Der Fall Loos. Wien: Amalthea-Signum-Verlag 2015
  • Elsie Altmann-Loos: Mein Leben mit Adolf Loos. Wien [u. a.]: Amalthea 1984
  • Ralf Bock: Adolf Loos. Leben und Werke. München: Deutsche Verlagsanstalt 2009
  • Markus Kristan/Sylvia Mattl-Wurm/Gerhard Murauer [Hg.]: Adolf Loos. Schriften, Briefe, Dokumente aus der Wienbibliothek im Rathaus. Wien: Metroverlag 2018
  • Burkhardt Rukschcio / Roland Schachel: Adolf Loos. Leben und Werk. Salzburg: Residenz Verlag 1987

Einzelnachweise

  1. Vgl. Andreas Brunner: Gruppenbild mit Kindern. In: Markus Kristan/Sylvia Mattl-Wurm/Gerhard Murauer [Hg.]: Adolf Loos. Schriften, Briefe, Dokumente aus der Wienbibliothek im Rathaus. Wien: Metroverlag 2018, S. 283 ff.
  2. Vgl. Neues Wiener Journal, 20.1.1928, S. 7
  3. Vgl. Julia Bertschik/Primus Heinz-Kucher/Evelyne Polt-Heinzl/Rebecca Unterberger: 1928. Ein Jahr wird besichtigt. Wien: Sonderzahl 2014, S. 72 ff.
  4. Vgl. Die Stunde, 7.9.1928, S. 1; Neues Wiener Journal, 7.9.1928, S. 5; Der Tag, 7.9,.1928, S. 3
  5. Prager Tagblatt, 15.9. 1928, S. 3
  6. Vgl. Strafsache Vr 5707/ 1928 / Strafakt, handschriftlicher Aktenvermerk im Vernehmungsprotokoll vom 5. September 1928
  7. Vgl. Ralf Bock: Adolf Loos. Leben und Werke. München: Deutsche Verlagsanstalt 2009, S. 20
  8. Strafsache Vr 5707/ 1928 / Strafakt, Urteil vom 1. Dezember 1928
  9. Vgl. Kompositionsentwurf zur Oper Lulu von Alban Berg, Österreichische Nationalbibliothek, Musiksammlung, F 21 Berg 28/XXIX, fol. 13r
  10. Vgl. Elsie Altmann-Loos: Mein Leben mit Adolf Loos. Wien [u. a.]: Amalthea 1984, S. 214 ff.

Weblinks