Lebensmüdenstelle
Bei der Lebensmüdenstelle handelte es sich um eine Beratungsstelle für Menschen in Lebenskrisen, die 1928 von Ethischen Gemeinde ins Leben gerufen wurde. Leiter der Wiener Ethischen Gemeinde, gleichzeitig Initiator und Leiter der ihr angeschlossenen Lebensmüdenstelle war der Freidenker, Volksbildner, Philosoph und Pazifist Wilhelm Börner.
Die Lebensmüdenstelle wurde am 22. Mai 1928 im Gebäude der Wiener Freiwilligen Rettungsgesellschaft in der Oberen Weißgerberstraße 2 eröffnet, wo sie in zwei Räumen täglich von 18 bis 20 Uhr allen Menschen offenstand, die sich mit Gedanken der Selbsttötung trugen – unabhängig von Staatsangehörigkeit, Beruf, Alter oder Weltanschauung. Zu den Kernaufgaben der Beratungsstelle zählte die "praktische Fürsorgetätigkeit", worunter etwa die Unterstützung bei Gesuchen oder Anträgen, die Mediation bei Streit und mentale Stütze in Krisensituationen verstanden wurde. Die Lebensmüdenstelle legte ihren Schwerpunkt auf die Suizidprophylaxe und richtete sich vor allem an Menschen, die bisher noch keinen Suizidversuch unternommen hatten. Die Beratung erfolgte kostenfrei und vertraulich, auf Wunsch auch anonym. Der Gesprächsraum war hierfür durch einen Vorhang abgetrennt, der die Beratenden von den hilfesuchenden Personen abschirmte.
Der Eröffnung vorangegangen war eine längere Vorlaufzeit, in der geeignete Räume, Ausstattung und vor allem ehrenamtliche Mitarbeiter*innen gefunden und geschult werden mussten. Der hervorragende Netzwerker Börner konnte bei der Gründung der Lebensmüdenstelle wohl auch auf Unterstützung aus seinem beruflichen Umfeld zählen, wenngleich noch weitgehend unerforscht ist, ob bzw. inwiefern sich prominente Persönlichkeiten um ihn herum in die alltägliche Arbeit einbrachten. Kontakt und Austausch zum Thema Suizidprävention pflegte Börner etwa mit dem jungen Neurologen und Psychiater Viktor Frankl, der sich bereits in dieser Zeit um die Unterstützung gefährdeter Jugendlicher bemühte. Zu jenen, die mehrere Jahre lang in der Lebensmüdenstelle arbeiteten, zählte jedenfalls die im Kreis um Karl und Charlotte Bühler tätige Psychologin Margarethe Andics-Karikas (1900–?). Sie promovierte 1935 an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien und veröffentlichte 1938 die Studie "Über Sinn und Sinnlosigkeit des Lebens. Auf Grund von Gesprächen mit geretteten Selbstmördern".
Der Betrieb der Lebensmüdenstelle wurde von Freiwilligen am Laufen gehalten. Ab 1929, dem Jahr der Weltwirtschaftskrise, in dem mit 1.336 Hilfesuchenden die meisten Beratungen verzeichnet wurden, war eine Bürokraft halbtägig angestellt. 1931 umfasste der Mitarbeiter*innenstand neben dieser angestellten "Beamtin" 43 ehrenamtliche Berater*innen sowie 24 Rechtsanwält*innen und fünf Ärzt*innen. Im letzten vollen Berichtszeitraum für das Kalenderjahr 1937 waren es 27 Berater*innen, 26 Rechtsanwält*innen und acht Ärzt*innen gewesen.
Die Finanzierung der Lebensmüdenstelle erfolgte fast ausschließlich über Sach- und Geldspenden aus privater Hand oder von Firmen. Für einige Jahre lassen sich auch Subventionen geringeren Ausmaßes durch die Stadt Wien nachweisen.
Rasch entwickelte sich die Beratungsstelle zu der zentralen Einrichtung der Ethischen Gemeinde. Dementsprechend nahm sie auch in den "Mitteilungen der Ethischen Gemeinde", dem Publikationsorgan des Vereins, ab 1928 einen Fixplatz ein. Berichtet wurde über die Aktivitäten und Erfolge der Beratungsstelle, abgedruckt wurde der Erhalt von Sachspenden und die Namen jener, die Geldzuwendungen machten. Jährlich erfolgte ein Leistungsbericht, in dem unter anderem die Anzahl der Beratungen ("Besuche") – viele kamen über Jahre hinweg –, das Geschlecht und Alter der Hilfesuchenden, deren Beruf sowie die angegebenen Motive für die "Lebensmüdigkeit" verzeichnet wurden. Wie oben erwähnt, wurde mitunter auch die Art der praktischen Fürsorgetätigkeit nach Häufigkeit aufgelistet. Der Kassier des Vereins berichtete jährlich über die finanzielle Gebarung.
In den rund zehn Jahren ihres Bestehens, vom 22. Mai 1928 bis zur durch die nationalsozialistische Machtübernahme erzwungenen Einstellung des Betriebs am 18. März 1938, wurde die Beratungsstelle von 7.134 Personen, davon 3.970 Männer und 3.164 Frauen, in Anspruch genommen.
Quellen
- Wienbibliothek im Rathaus: Teilarchiv Gesellschaft für Ethische Kultur
- Wienbibliothek im Rathaus: Sammlung Wilhelm Börner
- Wienbibliothek im Rathaus: Teilnachlass Wilhelm Börner
- Wienbibliothek im Rathaus: Sammlung Stephanie Börner
- Wienbibliothek Digital: Wilhelm Börner
Literatur
- Evelyne Luef: Von Hoffnung in Zeiten der Krise. Wilhelm Börner und die Lebensmüdenstelle der Ethischen Gemeinde. In: Ausnahmezustand. Krisen und Konflikte aus dem Archiv. Hg. von Tanja Gausterer / Arnhilt Inguglia-Höfle / Susanne Rettenwander / Kyra Waldner. Göttingen: Wallenstein Verlag 2024, S. 47–62
- Sonja Kato-Mailath-Pokorny: Wilhelm Börner (1882-1951). Sein Leben an Hand ausgewählter Werke. Dipl.-Arb. Univ. Wien. Wien 2007