Ethische Gemeinde

Aus Wien Geschichte Wiki
Wechseln zu:Navigation, Suche
Briefkopf eines Schreibens der Ethischen Gemeinde, 1928
Daten zur Organisation


Die Ethische Gemeinde wurde 1894 als Verein mit der Bezeichnung "Ethische Gesellschaft" in Wien gegründet. Inspiriert von Felix Adler (1851–1933), der 1876 in New York die Gesellschaft für Ethische Kultur ins Leben gerufen hatte, bildeten sich in Europa in den 1890er Jahren einige ethische Gesellschaften nach diesem Vorbild. Bereits 1896 wurde der Internationale Ethische Bund gegründet, dessen Mitglied der Wiener Verein wurde. Zu den Gründungsmitgliedern der Ethischen Gesellschaft in Wien zählten Josef Bardorf, Philipp Brunner, Marianne Hainisch, Emanuel Hermann, Isidor Himmelbaur, Friedrich Jodl, Rosa Mayreder, Berta Mörz, Ignaz Neudörfer, Emil von Neumann, Franz Niedermayer, Julius Ofner, Artur Gundaccar Freiherr von Suttner, Eugen Troll.

Die Ethische Gesellschaft trat für eine strikte Trennung von Kirche und Staat ein. Ihr Ziel war die Popularisierung der Moralphilosophie, um ethische Forderungen wie Gerechtigkeit oder Menschenliebe unabhängig von Religion zu diskutieren und zu befördern ("religionslose Ethik"). Durch Bildung und Reformen sollten gesellschaftliche Zustände und Lebensverhältnisse verbessert werden. Innerhalb der Ethischen Gesellschaft gab es Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themen wie beispielsweise Soziales oder Pädagogik und der Verein lud regelmäßig zu Vorträgen und Veranstaltungen ein.

Zentrale Protagonisten der Vereinigung waren der Moralphilosoph Friedrich Jodl und sein Schüler Wilhelm Börner. Letzterer trat 1902 als Student der Ethischen Gesellschaft bei, war ab 1909 deren Sekretär und fungierte ab 1919 bis zu ihrer Auflösung 1938 als Leiter. Bei der Neugründung 1948 wurde er – obwohl noch nicht aus dem Exil zurückgekehrt und daher in Abwesenheit – neuerlich zum Leiter gewählt und blieb in dieser Funktion bis zu seinem Tod 1951.

Börner war es auch, der die Ethische Gesellschaft, wohl in Anlehnung an das US-amerikanische Vorbild, zur Ethischen Gemeinde im Sinne einer konfessionslosen Seelsorge-Gemeinschaft umwandelte, in der sogenannte Sonntagsfeiern abgehalten wurden. Obwohl die Ethische Gemeinde grundsätzlich überparteilich war, gab Börner in den 1920er Jahren Wahlempfehlungen für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei ab, da er die Vereinsziele am ehesten in der Sozialdemokratie wiederfand. Auch sprach er sich in den 1920er Jahren in mehreren Reden gegen den vorherrschenden Antisemitismus aus und trat – noch vor den Ereignissen in Schattendorf – für eine Abrüstung und eine Verschärfung der Waffenbesitzgesetze ein. Ab den späten 1920er Jahren wurde die Lebensmüdenstelle zentrales Wirkungsfeld der Ethischen Gemeinde.

In unregelmäßigen Abständen veröffentlichte der Verein seine "Mitteilungen", die zunächst den Titel "Mitteilungen der Ethischen Gesellschaft in Wien" trugen, ab 1907 bis circa 1910 als "Mitteilungen der österreichischen Ethischen Gesellschaft" und später als "Mitteilungen der Ethischen Gemeinde" erschienen.

Der Vereinssitz befand sich zunächst in der Eschenbachgasse, wechselte aber mehrmals und ist für 1903 in der Zaunergasse, 1926 in der Henslerstraße, 1929 in der Marxergasse und später in der Unteren Viaduktgasse nachweisbar. Standorte der Neugründung nach dem Zweiten Weltkrieg befanden sich in der Weihburggasse und der Jauresgasse.

Die letzte Sonntagsfeier der Ethischen Gemeinde fand am 13. März 1938 statt. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde der Verein per Bescheid vom 2. September 1938 aufgelöst. 1938 zählte die Ethische Gemeinde mehr als 700 Mitglieder; viele davon wurden ins Exil gezwungen oder im Holocaust ermordet. Die Neugründung im Nachkriegs-Wien konnte nicht mehr denselben Zulauf erlangen. Die vereinspolizeiliche Löschung des Vereins erfolgte 1988.


Quellen

Literatur

  • Sonja Kato-Mailáth-Pokorny: Die Ethische Gemeinde in Wien – Politik und Ethik während der Ersten Republik. In. Logischer Empirismus, Werte und Moral. Hg. von Anne Siegetsleitner. Wien / New York: Springer 2010, S. 61–80
  • Sonja Kato-Mailath-Pokorny: Wilhelm Börner (1882-1951). Sein Leben an Hand ausgewählter Werke. Dipl.-Arb. Univ. Wien. Wien 2007