Berthold Viertel

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Berthold Viertel um 1950, Wienbibliothek im Rathaus, ZPH 1443.
Daten zur Person
Personenname Viertel, Berthold
Abweichende Namensform
Titel
Geschlecht männlich
PageID 4627
GND 118768395
Wikidata Q78966
Geburtsdatum 28. Juni 1885
Geburtsort Wien 4066009-6
Sterbedatum 24. September 1953
Sterbeort Wien 4066009-6
Beruf Lyriker, Dramatiker, Schriftsteller, Regisseur
Parteizugehörigkeit
Ereignis
Nachlass/Vorlass Wienbibliothek im Rathaus
Objektbezug Kinos, Karl Kraus (Portal)
Quelle Felix Czeike: Historisches Lexikon Wien, Gedenktage
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Letzte Änderung am 21.07.2023 durch WIEN1.lanm09lue
Begräbnisdatum 29. September 1953
Friedhof Zentralfriedhof
Grabstelle Gruppe 0, Reihe 1, Nummer 104
Ehrengrab Ehrengrab
Bildname Bertholdviertel.jpg
Bildunterschrift Berthold Viertel um 1950, Wienbibliothek im Rathaus, ZPH 1443.
  • 9., Pelikangasse 15 (Sterbeadresse)
  • 7., Mariahilfer Straße 96 (Geburtsadresse)
Familiäre Beziehung
Berufliche Beziehung
Beziehung, Bekanntschaft, Freundschaft

  • Dramaturg an der Wiener Volksbühne (1912, bis: 1914)

Berthold Viertel, * 28. Juni 1885 Wien, † 24. September 1953 Wien, Lyriker, Dramatiker, Schriftsteller, Burgtheaterregisseur.

Biografie

Berthold Viertel wurde als erstes Kind von Anna Klausner (1861–1932) und Salomon Viertel (1860–1932) in der Mariahilfer Straße 96 geboren und wuchs in dieser Gegend auf. Seine aus Galizien zugezogenen Eltern etablierten sich hier im Möbelhandel. Viertels umfangreiches autobiografisches Schreiben – man kann von einem autobiografischen Projekt sprechen, das ihn ab seinem 21. Lebensjahr durch seine Jahre in Deutschland und sein Exil begleitete – hat seine Wiener Kindheit und Jugend zum zentralen Inhalt. Er reflektiert darin sein Aufwachsen in einer jüdischen Familie mit "katholischen Dienstmädchen", "monarchischen Gefühlen" und "deutscher Kultur". Bereits als Volksschulkind in der Zieglergasse 23 war er mit Antisemitismus konfrontiert, den er später mit den ersten großen Wahlerfolgen von Karl Lueger in Verbindung brachte, der in seinen Wahlreden spezifisch "jüdische Möbelhändler" als Ausbeuter angriff. Viertel sprach auch vom "Mitschüler Hitler" und meinte damit, dass sich die Wurzeln des Nationalsozialismus um 1900 bereits in der Schule zeigten – nicht nur in deutschnationalen Mitschülern, sondern auch in Schulbüchern, die Rassenkunde lehrten und Jugendbüchern (wie Karl May und Felix Dahn), die romantische Fiktionen von Völkern und Nationen verbreiteten.

Er besuchte 1894 bis 1903 das Mariahilfer Gymnasium und kam in freundschaftliche Verbindung zu Karl Adler, dem jüngsten Sohn von Victor Adler, mit dem er moderne Kunst und Literatur entdeckte und sich als "jugendlicher Kulturanarchist" fühlte. Beide verehrten Peter Altenberg, lasen die "Fackel" von Karl Kraus ab dem ersten Heft und begannen das Café Central zu frequentieren. Im Juli 1903 rissen Viertel und Adler – nachdem sie beide bei der Matura durchgefallen waren – nach Paris aus. Ernüchtert und ohne Geld mussten sie aber schließlich doch die Eltern um Hilfe bitten: Victor Adler ermöglichte beiden die Vorbereitung auf eine externe Reifeprüfung am Zürcher Reformgymnasium des 23-jährigen Exil-Österreichers Rudolf Laemmel.

Viertel studierte vorerst Jus, wechselte aber bald an die philosophische Fakultät. Während des Studiums baute er seine Netzwerke in der Kulturszene weiter aus und kam über Freundschaft und Zusammenarbeit mit Otto Soyka und Alfred Polgar um 1908 zu Karl Kraus, der seine ersten Gedichte und Essays um 1910/1911 in der "Fackel" publizierte. Die Freundschaft mit Kraus war prägend und hielt bis zu dessen Tod 1936. Zusammen mit Ludwig Münz gehörte Viertel ab 1924 auch zu den sehr wenigen Leuten, die Kraus duzte.

Sein Leben lang zwischen dem Schreiben – 1912 erschien Viertels erster Gedichtband "Die Spur" im renommierten Kurt-Wolff-Verlag – und dem Theater hin- und hergerissen, begann Viertel seine Theaterkarriere 1911 an der Wiener Freien Volksbühne (später Renaissancetheater), an der er bis 1914 als Dramaturg, Redakteur des "Strom" und schließlich auch als Regisseur arbeitete.

Am 3. August 1914 wurde Viertel als Leutnant der Traindivision Nr. 14 einberufen, nahm zunächst an der Serbienoffensive teil und verfasste martialische Gedichte (wie "Plänkler" und "Kote 708") im Stil der Zeit. Nur wenige Wochen später erlebte er Spionagehysterie, Hinrichtungen und den Winterrückzug aus Serbien. Im Jänner 1915 wurde Viertel an die ungarisch-galizische Karpatenfront versetzt und begann in einem Kriegstagebuch, in Briefen an Albert Ehrenstein und vor allem in seinem Essay "Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit" seine veränderte Haltung zum Krieg zu reflektieren. Er entschuldigte sich bei Karl Kraus, dessen pazifistische Haltung und Arbeit ihn erneut tief beeindruckten – und Kraus verzieh ihm. Während eines Fronturlaubs im Dezember 1916 lernte Berthold Viertel in Wien Mea (eigentlich: Salomea Sara, genannt Salka) Steuermann (1889–1978) kennen, die er Ende April 1918, nach der Scheidung von seiner ersten Frau, Grete Ružička (1888–unbekannt) – eine der ersten Doktorinnen der Chemie in Österreich –, heiratete.

Dresden – Berlin – Hollywood – London

Nach dem Ende des Krieges an der Ostfront war Viertel ein halbes Jahr als Feuilletonredakteur und Theaterkritiker beim Prager Tagblatt tätig und erlebte die Gründung des tschechoslowakischen Staates mit. Noch 1918 nahm er das Angebot an, als Oberspielleiter an das sich demokratisierende Hoftheater in Dresden zu gehen. In Dresden und München (wo Salka Viertel ein Engagement als Schauspielerin hatte) erlebte er die Novemberrevolution, die für ihn auch aufgrund freundschaftlicher Verbindungen zu Kurt Eisner, Gustav Landauer, Ernst Toller und anderen zentraler war als die österreichischen Entwicklungen zur selben Zeit. Mit November 1918 wurde auch das Dresdner Hoftheater in ein "Sächsisches Staatstheater" umgewandelt und nach dem Rätemodell kollektiv geführt. Viertel blieb drei Jahre in Dresden und wurde mit bahnbrechenden Ur- und Erstaufführungen von Georg Kaiser, Walter Hasenclever und anderen zum expressionistischen Starregisseur.

Als solcher kam er nach Berlin, wo er neben Regiearbeiten an den großen Berliner Theatern 1922 auch seinen ersten Stummfilm ("Nora") drehte. 1921 erschien Viertels zweiter Gedichtband "Die Bahn" bei Jakob Hegner. Er schrieb weiterhin Gedichte und Essays für "Die neue Schaubühne", "Die Weltbühne" und andere Blätter.

1923 gründete Viertel mit der "Truppe" sein eigenes, genossenschaftlich organisiertes, avantgardistisches Ensembletheater in Berlin, das sich in ideeller Fortsetzung des Volksbühnengedankens der Aufführung gesellschaftskritischer und literarischer Dramatik gegen Schund und Startheater verschrieb. Freunde und Kollegen Rudolf Forster und Fritz Kortner, die inzwischen als Stars galten, schlossen sich dieser idealistischen Unternehmung an. Viertels Truppe scheiterte in Zeiten der Inflation zwar materiell, gilt aber bis heute als hochinnovatives Theaterexperiment der Weimarer Republik.

Das Scheitern dieses Projekts belastete Viertel mit hohen Schulden. Angebote aus der amerikanischen Filmindustrie – besonders sein heute verschollener Film "Die Abenteuer eines Zehnmarkscheins" hatte internationale Aufmerksamkeit erregt – versprachen finanzielle Sanierung und so übersiedelte die Familie Viertel 1928 nach Hollywood. Obgleich Berthold Viertel zwischen 1929 und 1932 neun Filme in Hollywood drehte und mit Fox, Warner Brothers und Paramount für wichtige Studios arbeitete, konnte er sich in diesen Jahren, in denen der Tonfilm die Möglichkeiten der zugezogenen Filmschaffenden zugleich erweiterte und beschränkte, als Filmregisseur keinen Namen machen. Seine Filme sind heute vergessen und teilweise sogar verloren.

Ende 1932 reiste Viertel zurück nach Wien und Berlin, um seine Rückkehr vorzubereiten. Er wurde Zeuge der nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland und ließ sich – nach einem "hingeschmissenen" Jahr zwischen Wien, Berlin und Paris – schließlich in London nieder, wo er in den folgenden drei Jahren als Regisseur für die Gaumont British arbeitete. Seine Familie blieb in Los Angeles.

Ab 1936 hatte er Probleme, in London finanziell gesicherter Arbeit nachzugehen, obwohl er sich in der jungen englischen Kulturszene durch seine Freundschaft mit Christopher Isherwood und durch seine Beziehung mit der Schauspielerin Beatrix Lehmann gut etabliert hatte. 1939 erhielt er endgültig keine Aufenthaltsgenehmigung mehr und brach nach Amerika auf. Aufgrund seiner transnationalen Erfahrungen war Viertel schon in London zu einem hochgeschätzten Netzwerker der österreichischen und deutschen ExilantInnen-Community geworden. Auch in den USA wurde er rasch zu einer wichtigen Integrationsfigur des deutschsprachigen Exils. Viertel engagierte sich in zahlreichen Institutionen und Initiativen des Exils – etwa im "Freien Deutschen Kulturbund", der "German-American Writers Association", der "Tribüne für Freie Deutsche Kunst und Literatur in Amerika", dem "Council for a Democratic Germany", beim "Aurora Verlag" (Mitbegründer), der "Austro American Tribune" usw. – und beteiligte sich am Entwurf von Konzepten für eine demokratische Neugestaltung Europas nach dem Krieg. Aufgrund der begrenzten Öffentlichkeit der Exil-Community war all das aber vorwiegend von ideellem Wert und wenig lukrativ. Nach einer Serie von beruflichen Misserfolgen und gescheiterten Projekten war er zumeist auf die finanzielle Unterstützung Salka Viertels angewiesen, die seit 1932 als erfolgreiche Drehbuchautorin für Greta Garbo bei MGM arbeitete.

1941 erschien der erste der beiden Gedichtbände ("Fürchte dich nicht!"), die als Berthold Viertels wichtigster Beitrag zur deutschen Exilliteratur angesehen werden. Der zweite ("Der Lebenslauf") folgte 1947 und wurde im von ihm mitbegründeten Aurora-Verlag veröffentlicht. Viertel, der seit März 1944 amerikanischer Staatsbürger war, sich aber aufgrund seines antifaschistischen Engagement sowohl der Filmindustrie als auch dem FBI (das ihn seit 1942 überwachte) verdächtig gemacht hatte, entschied sich 1947 zur Rückkehr nach Europa – vorerst nach London und Zürich.

Rückkehr nach Wien

Im Sommer 1948 lag schließlich ein Angebot vor, am Wiener Burgtheater als Regisseur zu arbeiten. Es war Viertels eben zum Burgtheaterdirektor ernannter Schwager Josef Gielen, der ihn nach Wien rief. Als ständiger Gastregisseur, der nie in ein festes Anstellungsverhältnis übernommen wurde, versuchte Viertel zwischen 1948 und 1953 dieses Burgtheater in "Fühlung mit der Kunst der Zeit" zu bringen. Er brachte neue Dramatik – vorwiegend aus dem englischsprachigen Raum – nach Wien, die sich kritisch mit der Gesellschaft und ihren Problemen auseinandersetzte (besonders erfolgreich Tennessee Williams' "Glasmenagerie" und "Endstation Sehnsucht" [beide von ihm übersetzt]). Gegen den von ihm diagnostizierten "Reichskanzleistil" (als nachwirkendes akustisches Symbol der nationalsozialistischen Herrschaft) entwickelte er in 13 Inszenierungen einen eigenen wegweisenden Stil und sammelte um sich eine "Viertel-Truppe" bestehend aus Käthe Gold, Eva Zilcher, Josef Meinrad, Curd Jürgens und anderen, die seinen eigenwilligen Arbeitsstil schätzten. Am 24. September 1953 starb Berthold Viertel 68-jährig in Wien.

1959 wurde die Berthold-Viertel-Gasse im 10. Bezirk nach ihm benannt.

Literarische Werke

  • Die Spur, Leipzig 1913.
  • Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit, Dresden 1921.
  • Die Bahn, Hellerau 1921.
  • Karl Kraus zum fünfzigsten Geburtstag, Wien 1924.
  • Die Bacchantinnen des Euripides. Frei übertragen, Hellerau 1925.
  • Die schöne Seele, Hellerau 1925.
  • Das Gnadenbrot, Hellerau 1927.
  • Fürchte dich nicht!, New York 1941.
  • Der Lebenslauf, Berlin 1947.

Quellen

Literatur

  • Katharina Prager: Berthold Viertel. Eine Biographie der Wiener Moderne. Wien [u.a.]: Böhlau 2018
  • Katharina Prager / Wolfgang Straub [Hg.]:Bilderbuch-Heimkehr? Remigration im Kontext, Wuppertal: Arco 2017
  • Tim Bergfelder / Christian Cargnelli [Hg.]: Destination London, German-speaking Emigrés and British Cinema, 1925–1950, New York / Oxford: Berghahn 2008
  • Katharina Prager: "Ich bin nicht gone Hollywood!" Salka Viertel – Ein Leben in Theater und Film, Wien: Braumüller 2007
  • Hilde Haider-Pregler / Peter Roessler [Hg.]: Zeit der Befreiung. Wiener Theater nach 1945, Wien: Picus 1998
  • Theodor-Kramer-Gesellschaft [Hg.]: Traum von der Realität. Berthold Viertel, Zwischenwelt 5, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1998
  • Alexander Stephan: Im Visier der FBI. Deutsche Exilschriftsteller in den Akten amerikanischer Geheimdienste, Stuttgart: Aufbau 1995
  • Irene Jansen: Berthold Viertel. Leben und künstlerische Arbeit im Exil, Wien: Peter Lang 1992
  • Elisabeth Neumann-Viertel: Du musst spielen. Das schöne Leben der Schauspielerin Elisabeth Neumann-Viertel. Autobiographische Erinnerungen aufgezeichnet von einem alten Freund, Wien: Verlag Österreich 1994
  • Konstantin Kaiser [Hg.]: Berthold Viertel, Das graue Tuch. Gedichte, in: Berthold Viertel – Studienausgabe in vier Bänden, Bd 3, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1994
  • Friedrich Pfäfflin [Hg.]: Tribüne und Aurora. Wieland Herzfelde und Berthold Viertel. Briefwechsel 1940–1949, Mainz: Hase & Koehler 1990
  • Siglinde Bolbecher / Konstantin Kaiser [Hg.]: Berthold Viertel, Kindheit eines Cherub. Autobiographische Fragmente, in: Berthold Viertel – Studienausgabe in vier Bänden, Bd 2, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1990
  • Konstantin Kaiser / Peter Roessler [Hg.]: Berthold Viertel, Die Überwindung des Übermenschen. Exilschriften, in: Berthold Viertel – Studienausgabe in vier Bänden, Bd 1, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1989
  • Eduard Steuermann: The Not Quite Innocent Bystander, Writings of Edward Steuermann, edited by Clara Steuermann / David Porter / Gunther Schuller, Nebraska 1989
  • Siglinde Bolbecher: Viertels Welt – der Regisseur, Lyriker, Essayist Berthold Viertel. Katalogbroschüre der Ausstellung "Viertels Welt" im Österreichischen Theatermuseum, Wien 1988
  • Fetzer, Günther [Hg.]: Berthold Viertel, Daß ich in dieser Sprache schreibe. Gesammelte Gedichte, München: Hanser 1981
  • Friedrich Pfäfflin: Berthold Viertel im amerikanischen Exil, Marbacher Magazin 1978/79
  • Josef Mayerhöfer [Hg.]: Berthold Viertel – Regisseur und Dichter. Wien: Österreichische Nationalbibliothek 1975
  • Peter Viertel: Bicycle on the Beach, New York: Delacorte Press 1971
  • Gert Heidenreich [Hg.]: Berthold Viertel, Schriften zum Theater, München: Henschelverlag 1970
  • Salka Viertel: Das unbelehrbare Herz. Ein Leben in der Welt des Theaters, der Literatur und des Films. Hamburg: Claassen 1970
  • Friedrich Pfäfflin: Berthold Viertel (1885–1953). Eine Dokumentation, Sonderheft der Nachrichten aus dem Kösel-Verlag, München: Kösel 1969
  • Friedrich Pfäfflin: Berthold Viertel. 28. Juni 1885 – 24. September 1953. Zur 80. Wiederkehr seines Geburtstages, Flugblatt, München 1965
  • Ernst Ginsberg [Hg.]: Berthold Viertel, Dichtungen und Dokumente. Gedichte – Prosa – Autobiographische Fragmente, München: Kösel 1956.
  • Christopher Isherwood: Prater Violet, New York: Random House 1945
  • Peter Viertel: The Canyon, New York: Harcourt, Brace 1940
  • Alois Kolb: Aus den Karpathen und Ostgalizien. Mit dem Korps Hofmann, Wien: Schroll 1917

Berthold Viertel im Katalog der Wienbibliothek im Rathaus.